Splitter vom Skelett der Erde

Andere Rentner lösen Kreuzworträtsel: Mit einer Ausstellung des Spätwerks erinnert das Georg-Kolbe-Museum in Charlottenburg an den 100. Geburtstag des britischen Bildhauers Henry Moore  ■ Von Katrin Bettina Müller

1968 bekam Henry Moore einen Elefantenschädel geschenkt. Als der siebzigjährige Bildhauer kurz darauf nach einem Thema für ein Album mit Radierungen suchte, begann er sich in das Innenleben des Schädels zu vertiefen. Er zeichnete mit der Nadel direkt auf die Radierplatten: Labyrinthische Windungen, Binnenräume ohne erkennbare Wege nach außen, überraschende Durchbrüche, verschlingende Höhlen im Inneren der Erde. Er kurvte durch die Anatomie des Schädels wie Woody Allen vier Jahre später („Was Sie schon immer über Sex wissen wollten...“, 1972) durch die Weichteile des Menschen.

Der Elefant bildet den aufregendsten Teil von Moores „Bücherei der natürlichen Formen“. Diese in einer Vitrine versammelten Fundstücke, die Feuersteine, Muscheln, Kiesel, Versteinerungen und zarten Gerippe, scheinen Splitter vom Skelett der Erde selbst zu sein, von denen alles Weiche, Fleischige abgeschabt und weggespült wurde wie alles Zufällige, Akzidentielle der Zeit. Wie er in diesen Resten des Lebendigen die Potenz zur Metamorphose aufspürte, lassen Zeichnungen, Arbeitsmodelle und Skulpturen nachvollziehen in der Ausstellung „Animals“, die das Kolbe-Museum zum 100. Geburtstag des Bildhauers zeigt.

Vor allem die Skizzen mit Ideen für Skulpturen widerlegen den naheliegenden Irrtum, Moores Formen als einfache Ableitungen der von der Natur gelieferten Fundstücke zu interpretieren. Der Weg, der von der Öffnung im Wirbelknochen zu jenen Durchbrüchen der Skulpturen führt, die Landschaft und Körper einander durchdringen lassen, ist mehr als Umwandlung der Form. Wenn Moore an die Stelle des Kerns der Körpermasse schließlich das Loch und damit den Austausch mit der Umgebung setzt, dann hat er ein neues, aktives Verhältnis zwischen Körper und Raum geschaffen.

Aus dieser Spannung zwischen innen und außen lebt die „Reclining Figure; Bone“ von 1975, eine der vielen Liegenden, mit denen der Bildhauer den öffentlichen Raum der Nachkriegsstädte eroberte. Der poröse Travertin bringt das Trockene, Spröde des Knochigen zur Geltung. Die Öffnungen erinnern ebenso an die Augen einer Maske wie an den Raum, den Arme und Beine bilden können, und an die Struktur des Beckenknochens. Alles Scharfe und Kantige ist abgeschliffen wie von den Elementen selbst. In dieser Reduktion auf ein konstruktives Gerüst waren Moores Skulpturen zur Chiffre einer Nachkriegskunst geworden, die Abstand von den moralischen Verwüstungen und dem ideologischen Mißbrauch des Menschenbildes zu nehmen erlaubte, ohne die Figur ganz aus den Augen zu verlieren.

Neben dem Knochigen steht die Anmutung des Tierhaften im Mittelpunkt der Berliner Ausstellung, die das Kolbe-Museum zusammen mit der Moore Foundation organisiert hat. Zwar entstammen die „Animals“ zum größten Teil dem Spätwerk des Bildhauers, oft neben den stadtbildprägenden Plastiken entstanden. Dennoch ermöglichen sie einen konzentrierten Blick auf die Ambivalenz zwischen Organischem und seiner Transformation in Stein und Metall.

Nur wenige Skulpturen porträtieren das Tier als Individuum wie der 1960 entstandene kleine „Fledgling“ („Jungvogel“, Höhe 18cm): langschnäblig, griesgrämig und grob aus drei kaum ausbalancierten Teilen zusammengefügt, als ob das Fressenwollen vorne und das Schwanzfedernflattern hinten noch zu keiner bewußten Einheit gefunden hätten. Dennoch rührt dieser zerzauste Schreihals mehr als die elegante „Bird Form II“ von 1973 aus schwarzem Marmor, vollendet im Spiel der Einbuchtungen und Auswölbungen der Flächen, in der keine Linie aus der perfekten Synthese von Ei und Flügel ausreißt: Hier leitet das Vogelhafte nur eine erste Ebene der Wahrnehmung ein, die dann zu allgemeinen Formulierungen von Wachstum und Gestaltgebung hinübergleitet. Ein stummelschwänziges Pferd (1984), das mit jedem Quadratzentimeter der streicheln wollenden Hand entgegenschmeichelt, blieb nur Arbeitsmodell aus Gips. Moore wollte es trotz Begeisterung eines Assistenten nicht vergrößern, weil der naturalistische Anklang nicht zu seinem Formkonzept paßte.

Wie andere Rentner Kreuzworträtsel lösen, so erlaubte sich Moore am Ende einer erfolgreichen Bildhauerkarriere Ausflüge in den Naturalismus. Der über Achtzigjährige zeichnete Schafe, die auf den Weiden nahe seines Hauses grasten, wenn ihm der Rummel um die Aufträge für Monumentalplastiken zu groß wurde. Diese Zeichnungen werden nun erstmals zusammen mit dem Arbeitsmodell seines „Sheep piece“ ausgestellt, an dem er zehn Jahre zuvor gearbeitet hatte: Da suchte er durch die größtmögliche Nähe zweier knolliger Formen das Anschmiegsame, Friedliche, Genügsame und Langsame der Tiere in eine räumliche Situation zu übersetzen, ohne Schafe abzubilden. In monumentaler Größe von 570 cm steht das „Sheep piece“ heute auf der Weide, die zum Park der Moore Foundation gehört. Seine felsenhafte Ruhe wird nur von Karnickeln bedroht, die die Standfestigkeit der Großskulptur untergraben.

Henry Moore: „Animals“. Georg- Kolbe-Museum, Sensburger Allee 25, 14055 Berlin. Di–So 10–17 Uhr, bis 3. Mai. Eintritt 8 DM, ermäßigt 5 DM