Schnelle Wolke neun und süße Cloud Nine

Von Denver nach San Francisco. Eine Tafel Schokolade, ein Mädchen und ein Schuß Beatnik-Nostalgie  ■ Von Balduin Winter

„Ja, was zum Teufel machen wir in Denver?“ fragte in einer warmen Augustnacht des Jahres 1947 Jack Kerouac seine Kumpane Neal Cassady und Allen Ginsberg, die in seinem berühmten Roman „On the Road“ natürlich anders heißen. Von New York waren sie aufgebrochen, weil sie die intellektuelle Bohème des Ostens satt hatten. Leben wollten sie nach diesen bleiernen Jahren des Krieges, ans Mark des Lebens herankommen, die Erkenntnis, das Paradies finden, das heilige Leben in jeder noch so banalen Sekunde zelebrieren, jeder Augenblick ein neuer Beginn. Auf Teufel komm raus suchten sie ihren Regenbogen, auf den hitzezerfressenen Highways durch Utah und Nevada, auf den langen Güterzügen der Huntington, Union oder Southern Pacific, in den krummen Gäßchen des mexikanischen Viertels von Denver, wo sie in dieser Augustnacht ausnahmsweise nicht gerade Amerika neu erfanden, sondern eine wüste Party feierten.

Was zum Teufel mache ich an einem verschlafenen Augustmorgen in Denver, fünfzig Jahre später? Aufgrund des Buches von Kerouac hatte ich mir die Stadt als lärmende, pulsierende, zuckende, irre, musikdurchrauschte Metropole vorgestellt. Doch die Beat Generation ist nahezu ausgestorben, die Hippies sind alt und bürgerlich geworden, beeindruckend bloß die biblischen Gestalten dreier alter Penner in der Larimer Street, ansonsten döst Denver, langweilt. Es könnte St. Louis sein oder Cleveland oder Minneapolis, mag Denver doch der Teufel holen, der in Denver nicht los ist. Ich kaufe als Reiseproviant noch eine Tafel Bio-Schokolade, Cloud Nine, dann zur Union Station und nichts wie weg. Go West.

Ohne Zweifel ist die grandiose Pionierleistung des Eisenbahnbaus über die Rockies erwähnenswert. Eine im buchstäblichen Wortsinn halsbrecherische Trasse, bei deren Bau zahlreiche Arbeiter in den Fels beißen mußten. Von Denver (1.700 Meter) schwingt sie sich zur Continental Divide hinauf, die der Moffat-Tunnel auf etwa 2.800 Meter durchröhrt. Dem professionellen Reisenden hat dazu zweierlei einzufallen, erstens Blut und zweitens Dollars. Blut: Die Kette der Rockies, die man hier passiert, heißt Indian Peaks, die meisten Gipfel und Kämme tragen indianische Namen, Navajo Peak, Apache, Shoshone, Pawnee, Paiute, Kiowa, Arapaho, Niwot. Es sind die Namen von Stämmen und Häuptlingen, die längst umgebracht worden sind – man sage also nicht, die Amerikaner hätten kein Feeling für Geschichte.

Zweitens Dollars: Der Eisenbahntrasse liegt ein gigantischer Betrug zugrunde. Gustavus Myers hat 1910 in seinem Buch „Die Geschichte der amerikanischen Vermögen“ die Stories der Herren Huntington, Stanford, Crocker und Hopkins, des „Pacific-Quartetts“ aufgerollt, das in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Linie von Denver nach Oakland baute, sich mit kriminalistisch spannenden Betrügereien etwa 30 Millionen Morgen Land ergaunerte und rund 50 Millionen Dollar für sich abzweigte. Damit stehen sie in einer Reihe mit den Vanderbilts, Goulds, Blairs, Garretts, Morgans und Carnegies. Myers' zufolge waren sie alle zusammen ebenso phantasievolle wie skrupellose Abenteurer, die durch das Eisenbahngeschäft schließlich zu den reichsten Männern der USA aufgestiegen sind. Gelobtes Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

Rund 32 Stunden benötigt der „Californian Zephyr“ für die etwa 2.200 Kilometer lange Strecke durch den „Wilden Westen“ von Denver nach San Francisco. Und man fällt in die Weite des Raums. Die grandiosen Canyons des Colorado Rivers vermitteln noch Übersicht und Begrenzung: Fluß, wo bewässert wird, Felder und Plantagen, darüber rote Felsen und blauer Himmel, dazu die bekannten Requisiten der Zivilisation, die Telegrafenmasten, der Highway, Einzelhäuser, Dörfer und Schrottplätze. Nach Grand Junction, vor allem aber nach Green River (Utah) verändert sich die Landschaft völlig. Die Wüste beginnt, hügelig zunächst, dann immer flacher, riesige Ebenen voll staubiger Salbeibüsche, schließlich nur noch ganz niedrige Gewächse. Manchmal schneidet sich ein wasserloser Lauf durch den felsig-schotterigen Boden. Helle leere Flächen deuten eindeutig Versalzung an, die ersten Salzseen kommen ins Blickfeld, rissiger Boden, von Wasser keine Spur. Eine weite Weite, aus dem Labyrinth der Menschen, in dem die Donnerschläge der Uhren widerhallen, gelangt man in die Heimat der Ewigkeit, die Maßlosigkeit des Himmels wird nur von kleinen, niedrigen, schnell ziehenden Wolkengefiedern gedämpft.

Im Panoramawagen sitze ich neben Elaine, einem jungen Mädchen, kaum älter als sechzehn (sweet little sixteen...). Wir essen gemeinsam Schokolade (Cloud Nine...) Ob sich daraus alles Weitere ergibt? Unerhört konzentriert blickt sie aus dem Fenster in die Wüste hinaus. „Wir stoßen mit den Schatten der Wolken zusammen“, sagt sie, mehr für sich. „Und dennoch kein Crash...“, spinne ich weiter, sie aber unterbricht mich: „Wer weiß!“

Mit einer spontanen Geste legt sie ihre Hand auf den Rücken meiner Linken – eine Geste von der Sorte: nur Kinder können das – und ruft, verblüfft wohl über die eigene Entdeckung: „Die Wolken laufen hier so rasch, um vor der Einsamkeit der Wüste zu fliehen..., aber nachts kommen wohl die Wälder aus Colorado, um die Wüste zu trösten!“

Nachts sind keine Wälder gekommen, so geht es noch den ganzen Vormittag durch eine ungetröstete Wüste, unterbrochen von großen Oasen bei Winnemuca und Lovelock, wo dank künstlicher Bewässerung riesige Weiden angelegt worden sind.

Von Indianerland keine Spur: Die einst hier nomadisch lebenden Washo und Paiute wurden vom Goldrush regelrecht überrollt. Vor fast 150 Jahren zog hier eine riesige Karawane durch, dem Golde und Silber entgegen, das an beiden Flanken der Sierra Nevada gefunden wurde. Die Region zwischen Reno und Carson City war ein Zentrum der Miners, auch Mark Twain versuchte hier sein Glück. Ihr Glück versuchen noch heute Zigtausende Spieler in den Casinos von Reno, wo einst, illegal, um Nuggets und Silberbarren gepokert wurde.

Seit der Legalisierung des Glücksspiels 1931 sind Las Vegas und Reno zum Mekka der Glücksspieler geworden. Spielhallen, Sexshops und Trailersiedlungen in den Vororten konglomerieren sich zu einer der häßlichsten Städte der USA, die alle möglichen Klischees von amerikanischer Unterhaltungsindustrie bedient, so daß man nur den Mantel des Klischees über sie hüllen kann.

Über die Sierra, durch das Sacramento Valley an die große Bay. Von Emeryville bringt ein Shuttlebus die Reisenden über die große Oakland Bay Bridge nach San Francisco, eine Stadt für die Seele, in die sich manch urbanophobes Gemüt schon verliebt hat. Doch darüber ist schon genug geschrieben worden.

Nachdem ich die entwickelten Fotos aus dem Laden abgeholt habe, setze ich mich ins Café Macondo im Mission District, der Latino-Hochburg, eine malerische Kneipe, viel Platz für Romantik. Eine Serie Wüstenfotos lege ich auf und träume Wälder in sie hinein und schnell ziehende Wolken darüber.

Als literarische Vorlage aus der Vorzeit diente dem Autor: Jack Kerouac, „Unterwegs – On the road“, Rowohlt, 14,80 DM