Die Erde hat ihn wieder – immerhin

Wie der erklärte Olympia-Protagonist Hermann Maier damit umgeht, bei der olympischen Abfahrt schwer gestürzt zu sein – und warum statt seiner Jean-Luc Cretier Gold holt  ■ Von Ralf Mittmann

Nagano (taz) – Das Plakat hat etwas. Ein Skifahrer in perfekter Kurvenhaltung zischt an der Weltkugel vorbei und zieht einen leuchtendgelben Schweif hinter sich her. Soll sagen: Hermann Maier (25), der Außerirdische, dessen Stern sozusagen kometenhaft aufging in diesem Winter, auf zwei zwei Brettern dem irdischen Dasein entrückt. Seit gestern hat ihn die Erde wieder. Zwar mit brummendem Schädel und Prellungen an Schulter und Knie, aber immerhin lebend.

Das muß so deutlich gesagt werden. Als der Weltcup-Führende nämlich nach knapp 18 Sekunden des olympischen Abfahrtslaufes am Mount Karamatsudake in einer mit einem Sprung versehenen S- Kurve in die Luft geschleudert wird, als er mit mehr als 100 km/h über 50 Meter durch die Luft segelt, als er danach die erste Abzäunung mit seinem Körper wegreißt und – längst zum Spielball unkontrollierbarer Fliehkräfte geworden – über die zweite Absperrung geschleudert wird, da ist dieser Mann in Lebensgefahr.

Unten im Zielraum, wo der Sturz des Österreichers auf einer Großleinwand zu sehen war, geht ein Aufschrei durch die Menge, vor den Fernsehschirmen wird selbst alten Hasen unter den österreichischen Fernsehreportern schlecht. Maier. Sofort rief das Gedächtnis die Erinnerung ab – an Ulrike Maier, die 1994, kurz vor Olympia in Lillehammer, bei einem Sturz in Garmisch-Partenkirchen tödlich verunglückt war.

Hermann Maier hat Glück. Unverschämtes Glück. Und einen Körperbau, den auch unter den besten Abfahrern nicht jeder hat. „Gott sei Dank verfügt der Hermann über eine starke Muskulatur“, sagt Österreichs Teamarzt Andreas Lotz, „und Gott sei Dank ist er mit dem Rücken in die Fangzäune geflogen und nicht mit dem Kopf voraus.“

Später entsteht ein Streit. Einige Fahrer beschweren sich, das Tor an der Kante sei im Vergleich zum Training nach rechts versetzt gewesen, habe mithin das Passieren erschwert. Pistenbauer Bernhard Russi bestätigt, daß eine Korrektur vorgenommen worden sei – allerdings nach links, um die Durchfahrt zu erleichtern.

So steht Aussage gegen Aussage. Dem Augenschein nach hat aber Russi schlechte Karten. Trotzdem ist es letztlich wohl so, daß Hermann Maier die Schuld am Crash selbst trifft. In tiefer Hocke fuhr er die Kombination aus Kurve und Sprung an – viel zu schnell, viel zu direkt. Experten bestätigen später den ersten Eindruck: Maier hatte nie eine Chance, das Tor zu passieren.

Die Frage, die es zu klären gilt: War es Übermotivation? Reaktion auf das tagelange Warten? Die Strecke hatte Maier nach den Trainingsläufen für leicht befunden – war es Leichtsinn? Das Tor nach etwa 20 Sekunden war die Schlüsselstelle des Rennens, das hatte jeder gewußt – war es eine Portion Dummheit? „Mangelnde internationale Erfahrung“, sagt Maier später, „fehlende Routine“. Dabei hätte er nur einen Blick nach vorne werfen müssen, als er noch am Start stand. Unmittelbar vor ihm fuhr der Franzose Jean-Luc Cretier das ominöse Tor fast aufrecht stehend an, erst in der Kurve beschleunigt er wieder.

Dem österreichischen Cheftrainer Werner Margreither war die vorsichtige Fahrweise Cretiers aufgefallen, einen Funkspruch hinauf zum Berg gab es aber nicht. „Einem Maier kann man nicht sagen, er soll langsam fahren“, rechtfertigt er sich, „das ist einfach sein Fahrstil.“

Maier, der „Herminator“: Kraft statt Gefühl, Power statt Hirn? „Jean-Luc ist da mehr mit dem Kopf als mit den Beinen gefahren“, meint der französische Cheftrainer Michel Vion zur Fahrt seines Athleten. Falsch kann die Entscheidung nicht gewesen sein, der Olympiasieger heißt sehr überraschend Cretier (31) – ein Außenseiter aus Bourg St. Maurice und mithin wieder einmal einer, der nie ein Weltcuprennen gewonnen hat.

Auch Maiers Teamkollege Hannes Trinkl machte an der gefährlichen Stelle Abstriche – und wurde hinter dem Norweger Lasse Kjus mit Bronze belohnt. Das Wahre ist das nicht, aber ein Trost für Österreich, das durch Mario Reiter (wieder vor Kjus) wenigstens Kombinations-Gold holt.

Außer Maier scheiden an dieser Stelle noch 13 weitere Läufer aus, der Franzose Adrian Duvillard und der Italiener Luca Cattaneo stürzen ebenfalls schwer. Duvillard schmerzen, wie er sagt, alle Körperteile, Cattaneo wird mit gebrochenem Wadenbein und gerissener Achillessehne ins Krankenhaus geflogen.

Am Abend wird Hermann Maier für den Super-G angemeldet. Wie im Österreicher-Haus zugegeben wird, in der Hoffnung, das für heute angesetzte Rennen werde doch wieder wegen der schlechten Witterung in Hakuba ausfallen. Der Bursche selbst macht schon wieder lockere Sprüche. Ein weiter Flug sei das gewesen, er habe noch versucht, „ein paar Meter zu machen“. Im übrigen „war die Aussicht aus der Vogelperspektive sehr interessant“.

Man muß das verstehen: Irgendwie muß der Streß abgebaut werden. Extremsituationen, wissen Psychologen, sind die Geburtsstunde des schwarzen Humors. Hermann Maier, der Außerirdische. Die Erde hat ihn wieder. Gott sei Dank hat sie ihn noch.