Tele-Jobbing

Morgens im Bus nie wieder miese Gesichter: der Heimarbeitsplatz am Telefon erfreut sich einiger Beliebtheit  ■ Von Lennart Paul

Jeder Morgen eines jeden Arbeitstages bietet eine erkleckliche Anzahl quälender Momente. Was ist wohl am unangenehmsten: der erste Schritt aus dem Bett, der Weg hinaus in die winterliche Kälte, die täglich graueren Gesichter der Sitznachbarn im Bus oder das minutenlange Warten mit dem Auto an immer denselben Ampeln? Doch der Morgen kann gerettet werden, und vielleicht der ganze öde Arbeitstag. Schließlich entsteht um uns herum gerade die schöne, neue Arbeitswelt für das 21. Jahrhundert. „Beweglichkeit“ heißt dabei das Zauberwort Nummer eins, flexibel sollen Unternehmen und Arbeitnehmer sein. Das bedeutet auch, daß die Firma nicht mehr der Mittelpunkt des Arbeitslebens sein muß. Telearbeit ist auf dem Vormarsch: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bleiben zu Hause, setzen sich dort an ihren Computer und kommunizieren über Standleitungen mit ihrem Unternehmen.

Wieviele Telearbeiter es in Deutschland gibt, läßt sich nicht eindeutig sagen. Dazu ist zuwenig geklärt, wer eigentlich zu dieser Gruppe zählt: Der Außendienstmitarbeiter, der mit seinem Laptop von Kunde zu Kunde zieht? Die freie Journalistin, die vom heimischen Schreibtisch aus schreibt und ihre Artikel mit Hilfe eines Modems in die Redaktion sendet? Der Reiseverkehrskaufmann, der einmal in der Woche Rechnungen zu Hause bearbeitet?

Eines aber ist klar: „Deutschland hinkt bei der Telearbeit im Vergleich zu den USA und Großbritannien deutlich hinterher“, sagt Ute Schwetje von der „TA– Telearbeit“ in Köln. Das Bundesbildungsministerium beruft sich auf eine Studie der Europäischen Union, nach der der Anteil der Telearbeitsplätze in Deutschland nicht einmal fünf Prozent betrage, während er in Großbritannien bei 7,4 und in den USA sogar bei 14 Prozent liege.

Wieso aber setzen bisher wenige deutsche Firmen auf die interaktive Heimarbeit? Die Schwäche, sagen die Statistiker, liegt eindeutig beim Mittelstand. Während große Unternehmen wie Banken, Versicherungen und Autokonzerne, die international agieren, ganze Bereiche in die Telearbeit verlagert haben, tun sich die kleineren Unternehmen schwer. Das Bundesbildungsministerium hat deshalb im vergangenen Jahr zusammen mit der Telekom ein Förderprogramm aufgelegt. Insgesamt 500 Firmen mit weniger als 500 Angestellten erhalten jeweils bis zu 50.000 Mark Fördergeld. Ziel war es, rund 2.500 Telearbeitsplätze zu schaffen.

Die Firmen kommen aus ganz verschiedenen Bereichen. Stark vertreten sind das verarbeitende Gewerbe, aber auch Verlage und Reisebüros. „Unsere Zielvorstellung war es, Unternehmen zu gewinnen, denen die Telearbeit noch fremd war“, sagt Thomas Allner vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, das die Initiative des Bildungsministeriums betreut: „Die klassische Telearbeit wie den Außendienst wollten wir nicht fördern. Denn das läuft ohnehin.“

1.700 Telearbeitsplätze werden schließlich nach Ende des Programms geschaffen sein. Klingt zunächst gut. Doch über die Hälfte der Stellen gab es schon vorher. Sie wurden bloß neu als Telearbeit organisiert.

Andreas Pfannenberg führt ein Unternehmen der Elektrotechnik mit 200 Angestellten. Von der Initiative des Ministeriums hat er zu spät gehört. Aber inzwischen hat er selbst den ersten Telearbeitsplatz geschaffen: ein Mitarbeiter der Verkaufsabteilung arbeitet in der Nähe von München von zu Hause aus. „Dadurch sind wir näher am Kunden dran“, sagt Andreas Pfannenberg. „Großhändler aus Süddeutschland müssen nicht erst in unserer Zentrale anrufen und sich durchfragen.“

Pfannenberg nennt auch die Gründe, weshalb der deutsche Mittelstand die Telearbeit bisher skeptisch sieht: Zum einen seien die Einführungskosten solcher Arbeitsplätze teuer, und viele zweifelten, ob sich die Kosten für die Technik später durch Heimarbeit wieder einspielen lassen. „Vor allem aber scheint mir das Kontrolldenken in Deutschland sehr groß zu sein“, sagt Pfannenberg, der auch Vizepräsident der Vereinigung mittelständischer Unternehmen ist: „Bei uns formalisiert man Arbeit. Und viele denken, nur wer in die Firma kommt, tut auch etwas.“ Diesen Eindruck bestätigt Katrin Huhn, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Institus für Mittelstandsforschung: „In Deutschland opponiert das mittlere Management. Denn Telearbeit ist mit flachen Hierarchien verbunden, der einzelne bekommt mehr Verantwortung. Doch das Management will seine Pfründe nicht aufgeben.“ Im Mittelstand werde sich die Telearbeit jetzt über das Schneeballprinzip durchsetzen, glaubt sie: „Die Unternehmen brauchen zunächst einige Beispiele, daß diese Arbeitsform auch im Mittelstand funktioniert.“

Bei der „Kienbaum Unternehmensberatung“ in Düsseldorf setzt man sich in jüngster Zeit ständig mit dem Thema Telearbeit auseinander. „Unsere Kunden verlangen selten direkt, daß wir Telearbeit bei ihnen einführen sollen“, sagt Unternehmensberater Frank Deges: „Aber wir stellen im Rahmen einer Organisationsberatung alternative Arbeitsformen vor.“ Frank Deges hat die Erfahrung gemacht, daß sich stark standardisierte Arbeiten am besten von zu Hause aus erledigen lassen: „Bei Versicherungen und im Bestellwesen allgemein bestehen gute Möglichkeiten. Aber auch jede Art einer redaktionellen Tätigkeit bietet sich an.“ Nach den Eindrücken des Unternehmensberaters machen die meisten Firmen positive Erfahrungen mit der neuen Arbeitsform: „Sicherlich gibt es Mitarbeiter, die gar nicht für die Telearbeit geeignet sind. Aber Untersuchungen zeigen, daß die Telearbeit in vielen Fällen für eine Produktionssteigerung zwischen 12 und 20 Prozent sorgt.“

Was die Kienbaum-Mitarbeiter bei ihren Beratungen empfehlen, testen sie auch selbst: In den Niederlassungen des Unternehmens in Düsseldorf und Gummersbach wurden gerade 25 Telearbeitsplätze eingeführt. Bis zum Ende dieses Jahres läuft die Erprobungsphase mit der neuen Arbeitsform. Bei Kienbaum wurde die Telearbeit versuchsweise in möglichst vielen Unternehmensbereichen und einmal längs durch die Hierarchie eingeführt: vom Sachbearbeiter bis zum geschäftsführenden Gesellschafter. Einige der Telearbeiter wohnen in Köln oder Dortmund: „Sie sparen sich jetzt eine lange Anfahrtszeit, die früher unserer Firma auch verlorenging“, sagt Frank Deges. Zwei Mitarbeiterinnen haben sich die Telearbeit gewünscht, weil sie die Kinderbetreuung und ihren Bürotag nicht mehr unter einen Hut bringen konnten: Ohne die Telearbeit hätten die beiden wahrscheinlich unser Unternehmen verlassen“, sagt Frank Deges: „So aber können sie sich ihre Zeit freier einteilen und auch einmal abends arbeiten.“ Und Werner Dostal vom Institut für Arbeits- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit hat den Eindruck, daß der Wunsch nach Telearbeitsplätzen meist vom Arbeitnehmer ausgeht: „Das sind eher höherqualifizierte Leute, die sich Telearbeit für einen bestimmten Lebensbschnitt wünschen – junge Leute, die eine feste Anstellung nicht mehr für richtig halten.“ Dostal weist darauf hin, daß Telearbeit in den meisten Fällen nicht die ausschließliche Arbeitsform ist: „Alternierend wird von zu Hause aus und in der Firma gearbeitet.“ Häufig verbringen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Hälfte ihrer Zeit vor dem heimischen Bildschirm. Einige Unternehmen haben so das „Desksharing“ einführen können: Jeweils zwei Arbeitnehmer teilen sich im Wechsel einen Schreibtisch in der Firma.

Schöne, neue Arbeitswelt, in der Papis und Mamis bequem ihren Broterwerb mit dem Kinderhüten verbinden können und junge Menschen sich ständig frei für neue Aufgaben entscheiden? Neben den Chancen der Telearbeit gibt es auch genügend Risiken. Und auch Mitarbeiter, die sich nach Hause abgeschoben fühlen und gerne weiter täglich in die Firma gefahren wären.

Ein großes Problem vieler Telearbeiter ist, daß sie plötzlich ständig verfügbar scheinen. Wer von zu Hause aus arbeitet, dem fehlt der Schutz des Feierabends. Schließlich arbeiten viele ohnehin bei freier Zeiteinteilung, und ihre Chefs haben deshalb keine Hemmungen, auch später am Abend noch anzurufen.

Der größte Nachteil aber ist die Selbständigkeit, in der viele Telearbeiter agieren. Für die Arbeitgeber drängt sich diese Idee geradezu auf: In großem Rahmen Personalkosten sparen lassen sich schließlich nur, wenn die Arbeitnehmer ihre Sozialbeiträge selbst leisten. Unternehmensberater Frank Deges hat folgende Erfahrung gemacht: „Wenn bestehende Arbeitsverhältnisse in Telearbeitsverhältnisse umgewandelt werden, bleibt die feste Anstellung. Bei Neueinstellungen herrscht die Tendenz, freie Mitarbeiter projektbezogen zu beschäftigen.“ Auf diese Weise kann die vielgelobte flexible Telearbeit in den nächsten Jahren zum Bummerang werden und weiter zum Abbau fester Arbeitsverhältnisse beitragen.