Nigeria erobert Sierra Leones Hauptstadt

Die Militärjunta unter Johnny Koroma ist gestürzt: Nigerianische Einheiten haben den Regierungssitz in Freetown besetzt, die Regierungsarmee ist in Auflösung begriffen. Zehntausende fliehen aus der verwüsteten Stadt  ■ Von Dominic Johnson

Berlin (taz) – Nigeria hat es geschafft. Freetown, die Hauptstadt des westafrikanischen Kleinstaates Sierra Leone, stand gestern unter Kontrolle der nigerianischen Armee. Die seit Mai 1997 regierende Militärjunta ist geflohen.

Gegen Sonnenuntergang am Donnerstag besetzten nigerianische Soldaten den Regierungssitz in Sierra Leones Hauptstadt. Vorausgegangen waren sieben Tage blutiger und chaotischer Kämpfe, die Freetown verwüstet haben. Stadtteil für Stadtteil kämpfte sich Nigerias Armee ins Zentrum vor, zerstörte dabei Wohnhäuser und Moscheen und zerbombte den staatlichen Rundfunksender. Die juntatreuen Militäreinheiten wurden zurückgeworfen und verwandelten sich nach und nach in Horden unkontrollierbarer Desperados, während die auf 650.000 Menschen geschätzte Zivilbevölkerung Freetowns auf der Suche nach Sicherheit von einem Ende der Stadt ins andere zog. Nach Augenzeugenberichten errichteten mit Macheten und Knüppeln bewaffnete Jugendliche Straßensperren, an denen sie die fliehenden Zivilisten aufhielten und vermeintliche Sympathisanten des Gegners köpften. Gestern befanden sich über 3.000 Schutzsuchende im Gebäude des Internationalen Roten Kreuzes (ICRC) in Freetown.

Hilfsorganisationen zufolge sind in den vergangenen Tagen mindestens 250 Menschen in Freetown getötet worden. Nur ein Bruchteil der Stadtbevölkerung hat dem blutigen Endkampf entrinnen können, denn vor ihrem Vorstoß ins Stadtzentrum riegelte Nigerias Armee Freetown völlig ab. Etwa 20.000 Menschen waren dennoch bis Donnerstag ins Landesinnere gezogen, etwa 10.000 waren an der Küste unterwegs. 3.000 Bootsflüchtlinge waren im nördlichen Nachbarland Guinea angelangt, wo das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR Kapazitäten für 20.000 Ankömmlinge bereitgestellt hat. Weitere Boote nach Guinea sind unterwegs. In ganz Sierra Leone sind nach Angaben von Hilfsorganisationen 250.000 Menschen auf der Flucht.

Zu den Flüchtenden gehören auch Mitglieder der geschlagenen Junta. Etwa ein Dutzend Juntamitglieder sollen in Guineas Hauptstadt Conakry verhaftet worden sein. Zwei Hubschrauber aus Freetown, in denen 51 Minister und Beamte der Junta saßen, wurden gestern über dem südlichen Nachbarland Liberia von der nigerianischen Luftwaffe zum Landen gezwungen. Wo Juntachef Johnny Koroma steckt, ist unbekannt.

Das Risiko ist jetzt groß, daß Liberia, wo nach siebenjährigem Bürgerkrieg weiterhin Teile der einstigen westafrikanischen Eingreiftruppe Ecomog unter nigerianischem Kommando stehen, in den Krieg hineingezogen wird. Liberias Regierung hat sich gegen Nigerias Offensive ausgesprochen; 2.500 demobilisierte Kämpfer der ehemaligen liberianischen Rebellenbewegung NPFL, deren Führer Charles Taylor seit einem halben Jahr Präsident Liberias ist, sollen sich zur Unterstützung der Junta nach Sierra Leone begeben haben.

Zugleich haben Ecomog-Einheiten aus Liberia die Grenze nach Sierra Leone überschritten, um im Landesinneren gegen die restlichen Juntatruppen zu kämpfen. Nigeria stellt die Eroberung Freetowns, die der Wiedereinsetzung des im Mai 1997 vom Militär gestürzten sierraleonischen Präsidenten Ahmed Tejan Kabbah dienen soll, als Ecomog-Aktion dar und läßt alle Erklärungen zum Thema aus Liberias Hauptstadt Monrovia heraus von Ecomog- Kommandeur Timothy Shelpidi verkünden.

Tatsächlich agiert Nigeria in Sierra Leone auf eigene Faust – und der Krieg ist noch nicht zu Ende. Shelpidi bestätigte gestern, es gebe immer noch sporadischen Widerstand und die Junta habe sich noch nicht offiziell ergeben. Zuvor hatte Juntasprecher Alieu Kamara im Rundfunk den Verlust Freetowns als „taktischen Rückzug“ beschönigt und die Fortsetzung des Kampfes angekündigt. „Sierra Leone gehört uns“, sagte er. „Dies ist nur der Beginn der Schlacht.“