Jeder Brief eine Geschichte

■ Road movie auf brasilianisch: „Central do Brasil“ von Walter Salles

Dora ist Gott. Jedenfalls benimmt sie sich so. Eigentlich aber ist Dora (Fernanda Montenegro) nur eine pensionierte Lehrerin, die ihre Rente aufbessert, indem sie am Zentralbahnhof von Rio de Janeiro den vielen Menschen, die das nicht selbst können, ihre Briefe schreibt und sie anschließend zur Post bringt. Jedenfalls verspricht sie das. Statt dessen nimmt sie die Briefe aber mit nach Hause, wo sie mit Freundin Irene genüßlich auseinandergenommen werden. Welcher Brief verschickt wird, wer mit wem in Kontakt treten darf, welchen Gang das Schicksal nimmt, hängt von der Tagesform und den küchenpsychologischen Fähigkeiten der beiden ab.

Aber das Schicksal wird nicht nur von postalischen Gegebenheiten bestimmt wird, sondern manchmal auch von einem Kreisel: Der fällt dem neunjährigen Josué (Vinicius de Oliveira) aus der Hand, weswegen in Verkettung unglücklicher Zufälle seine Mutter überfahren wird. Nun bleibt ihm nur sein Vater, den er nie gesehen hat, aber an den seine Mutter gerade einen Brief hat schreiben lassen – von Dora, die prompt zur ersten Anlaufstelle der frischgebackenen Halbwaise wird. Dora ist davon gar nicht begeistert.

Es kommt, wie es kommen muß. Die knarzige Alte und der selbstbewußte Kleine geraten aneinander. Schließlich landen sie mehr unfreiwillig auf der Straße und beginnen eine Odyssee auf dem brasilianischen Land, mißverstehen sich in die Pleite, klauen in einem christlichen Lebensmittelladen, treffen einen netten Trucker, spielen kurz das Erfolgsmodell Kleinfamilie durch, um schließlich irgendwo anzukommen und nicht nur geographisch – wie das in Road movies halt so sein muß.

Es ist eine alte Geschichte, die erzählt wird. Die Annäherung über die Generationen hinweg, die rauhe Schale, die es zu knacken gilt. Neu ist bestenfalls die Konstellation, daß der ältere Part eine Frau ist. Die aber hat ganz und gar nichts von einer netten, plätzchenbackenden Großmutter, sondern ist ebenso knorrig und mißmutig und zerknautscht im Gesicht wie die diversen Walter Matthaus der Filmhistorie vor ihr. Überhaupt sind beide Teile dieses obskuren Pärchens nicht unbedingt sympathisch, auch wenn ihnen unsere Sympathien gehören. Selbst in den Momenten, in denen sich die beiden annähern, bleibt die Regie von Walter Salles so lakonisch, geben sich die Charaktere so widerborstig, daß auch dann kein Kitschverdacht aufkommt, wenn ein Kopf auf einer Schulter liegt oder Dora gesteht, daß sie im gleichen Alter wie Josué ihre Mutter verlor.

Der Weg führt in einen Wallfahrtsort. Dort wartet zwar nicht der Vater, aber wieder einmal ein Brief. Zum guten Schluß schreibt Dora zum ersten Mal seit Jahren wieder einen Brief für sich selbst. Jetzt endlich hat auch sie eine Geschichte. Denn es gibt auf dieser Welt mindestens so viele Geschichten, wie es Briefe gibt. Thomas Winkler

Wettbewerb: heute, 20 Uhr, International