"Protest muß friedlich bleiben"

■ Die Privatisierung öffentlicher Betriebe verschärfe die Erwerbslosigkeit, meint Dieter Scholz, der am Freitag für den DGB-Vorsitz kandidiert. Besetzungen von Arbeitsämtern würden aber nichts bewirken

taz: Am kommenden Freitag werden Sie zum Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes gewählt. Viele Mitglieder fragen sich, ob der DBG Berlin-Brandenburg nicht überflüssig ist. Sind Sie der letzte DGB-Vorsitzende?

Dieter Scholz: Ich habe nicht die Absicht, nach vier Jahren in den Vorruhestand zu gehen. Der DGB hat eine langfristige Perspektive.

Heute existieren 13 Einzelgewerkschaften. Bald aber gibt es neben IG Metall, Chemie und Bau nur noch die Dienstleistungsgewerkschaft. Braucht man da noch eine Dachorganisation?

Es ist manchmal schwierig, selbst eine kleine Gruppe unter einen Hut zu kriegen. Doch die Einzelgewerkschaften brauchen eine gemeinsame Wirtschafts-, Umwelt- und Arbeitsmarktpolitik.

Der DGB lagert gerade die komplette Rechtsberatung in eine eigenständige GmbH aus. Geht damit nicht die entscheidende Funktion verloren?

Das ist nicht die endgültige Schwächung des DGB. Ob die Entscheidung glücklich ist, wird die Zukunft zeigen, aber im Augenblick kann man sie nicht zurücknehmen. Die Kooperation mit dem DGB auf diesem zentralen Feld muß auch in Zukunft gewährleistet bleiben.

Sie sind alter Westberliner und haben in 50 Lebensjahren die Stadt nie länger verlassen. Warum nicht?

Ich sehe das als Makel. Aber mein Leben war stark durch meine Lehrzeit und die aufkommende Studentenbewegung geprägt. Und da hielt ich Berlin für den Nabel der Welt. Wenn ich noch mal 25 wäre, würde ich nach Paris gehen. Das Leben ist langsamer dort und nicht so verbissen. Man hat mehr Distanz zu sich selbst. Auch Madrid würde mich interessieren.

Hätten Sie 1968 in Paris gerne den Aufstand geprobt?

Das wäre eine interessante Erfahrung gewesen.

Schauen Sie heute mit neidischem Blick nach Frankreich, wo die Arbeitslosen und Gewerkschaften radikaler auftreten als hier?

Radikalität alleine garantiert nicht, daß man sich durchsetzt. Die Gewerkschaften sind auch hier kampffähig – aber in ihren eigenen Formen. Die jüngste Urabstimmung in der Stahlindustrie zeigt, daß wir über starken Einfluß verfügen.

Unlängst demonstrierten die Arbeitslosen und wollten dabei im Hotel Adlon nachsehen, was das Buffet zu bieten hat. Unterstützen Sie das?

Nein, das sind kleine Explosionen, die nichts bringen. Das verpufft. Wenn man dauerhaft arbeiten will, muß man sich grundsätzliche strategische Überlegungen machen. Am Buffet des Adlon läßt sich das Problem der Massenarbeitslosigkeit nicht lösen.

Die französischen Arbeitslosen konnten mit derartigen Aktionen ihre Regierung überzeugen, mehr Geld zu zahlen.

Das hängt nicht nur davon ab, ob man Arbeitsämter besetzt. Der Protest hierzulande muß ausschließlich friedlich bleiben.

Sind Sie bei der Berliner Arbeitslosendemonstration mitmarschiert?

Nein, vor meiner Wahl wollte ich nicht den Populisten herauskehren. Außerdem habe ich für die IG Metall zu dieser Zeit in einem Unternehmen um die Rettung von 70 Arbeitplätzen verhandelt.

Konnten Sie sie retten?

Zunächst nur für ein paar Monate – ein Zeitaufschub.

Was halten Sie vom Vorschlag des IG-Metall-Vorsitzenden Klaus Zwickel, daß der DGB sich bei seiner diesjährigen Wahlkampagne „Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ für die rot-grüne Koalition einsetzen soll?

Nichts. Selbst wenn eine rot- grüne Regierung kommt, werden sich unsere inhaltlichen Forderungen nicht wie im Urknall erfüllen. Ich bin nicht sicher, daß SPD und Grüne dem Druck der Arbeitgeber auf Abschaffung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall standhalten. Wir müssen auf die parteiliche Unabhängigkeit achten, um möglichst viele Menschen mobilisieren zu können. Wir sind aus gutem Grund eine Einheitsgewerkschaft.

Hegen Sie Sympathie für die CDU-FDP-Regierung?

Die konservative Politik zielt darauf ab, den Arbeitsmarkt und Sozialstaat zu deregulieren. Und da bin ich gegen.

Wann haben Sie das letztemal mit Arbeitslosen gesprochen?

Gestern abend. Das waren Künstler aus meinem Bekanntenkreis, die ein Zubrot suchen.

Wann waren Sie das letztemal in einem modernen Dienstleistungsbetrieb der Telekommunikationsbranche, wo sich die Beschäftigten fröhlich ausbeuten lassen?

Da war ich ausgesprochen selten. Ich habe mich in den vergangenen Jahren vor allem um die gefährdeten Betriebe im Osten gekümmert.

Viele Leute, die in den neuen Betrieben arbeiten, sehen nicht ein, wozu Gewerkschaften, Betriebsräte und soziale Sicherung überhaupt gut sein sollen. Was würden Sie denen sagen?

Wenn sie freiwillig auf soziale Sicherung verzichten, kann ich nur sagen: Das ist falsch. Denn so schnell sie auf der Karriereleiter zu einem Lohn von 10.000 Mark monatlich aufsteigen, so schnell können sie auch wieder abstürzen. Wenn größere Betriebe in Schwierigkeiten geraten, melden sich die Beschäftigten durchaus bei der Gewerkschaft. Aber man muß die modernen Dienstleister anders ansprechen als Arbeiter. Manche fragen weniger „Was verdiene ich?“, sondern „Was tut die Gewerkschaft für die Verringerung der Luftverschmutzung?“. Sie interessieren sich für die Urbanität ihres Lebensumfeldes und die Unternehmenskultur.

Der Soziologe Ulrich Beck schlägt vor, Millionen neuer Arbeitsplätze zu schaffen, indem ehrenamtliche Tätigkeit – Betreuung alter Nachbarn und Kindererziehung zum Beispiel – vermehrt bezahlt wird.

Ich halte das für zu kurz gesprungen. Wenn man auf den informellen Arbeitsmarkt setzt, findet man sich mit einigen schlechten Rahmenbedingungen ab, die in den vergangenen Jahren geschaffen wurden. Wir haben eine erhebliche Umverteilung zu Lasten der Masseneinkommen erlebt. Das Versprechen, dadurch viele neue Jobs zu schaffen, wurde nicht eingehalten. Mein wirtschaftspolitischer Ansatz ist deshalb zur Zeit nicht die Erfindung unterschiedlicher Modelle, sondern die Stärkung des Binnenmarktes. Die Leute sollen schlicht mehr verdienen, damit die Nachfrage die Wirtschaft ankurbelt. Die Entwicklung ist überhaupt noch nicht ausgereizt. In Ostdeutschland liegt das durchschnittliche Nettoeinkomen zum Beispiel bei 2.000 Mark. Davon ernähren Sie mal eine vierköpfige Familie! Zweitens brauchen wir Arbeitszeitverkürzung, die mit geringen Einkommen nicht machbar ist. Das mag alles sehr traditionell klingen – aber das ficht mich nicht an.

Es ist ziemlich illusorisch, durch die alte Wachstumsstrategie sieben Millionen fehlende Jobs bundesweit, in der Region Berlin- Brandenburg immerhin 900.000 Stellen, schaffen zu wollen.

Auch wenn die Arbeitslosigkeit damit kurzfristig nicht zu beseitigen ist, müssen wir versuchen, die Leute auf den offiziellen Arbeitsmarkt zurückzuholen. Aber man darf die Debatten nicht vereinseitigen. Ich lehne den öffentlich finanzierten Beschäftigungssektor nicht ab. So etwas darf jedoch nur dazu dienen, Menschen ein würdiges Leben zu ermöglichen. Zentral ist der erste Arbeitsmarkt.

Ihre Vorgängerin Christiane Bretz hat heftige Kritik eingesteckt, weil sie unter anderem mit Bürgermeister Diepgen das Bündnis für Arbeit einberief, das schließlich sang- und klanglos beerdigt wurde. Wiederholen Sie den Versuch?

Der Begriff ist unbrauchbar geworden. Das Projekt scheiterte, weil es keine nachvollziehbaren Ergebnisse gab. Man kann Bündnisse mit den Arbeitgebern gegenwärtig nur in einzelnen Betrieben machen, um konkrete Arbeitsplätze zu retten. Wenn allerdings die neue Bundesregierung zu uns käme, um ein Infrastrukturprogramm mit 15 Milliarden Mark für den Großraum Berlin aufzulegen, dann würde ich mich wieder an einen Tisch setzen. PR-Veranstaltungen wird es mit mir nicht geben.

Was verlangen Sie vom Senat?

Der öffentliche Dienst soll mehr tun, als Leute rauszuschmeißen. Es gibt dort Bereiche, die haben ihre Sparauflagen bereits erfüllt und könnten durchaus ein paar Leute einstellen. Doch das passiert nicht. Zudem fordere ich den Stopp der Privatisierung öffentlicher Betriebe. Diese Politik orientiert sich nur an der kurzfristigen Sanierung des Haushalts. Die Wirkungen bleiben außer acht. An den Wasserwerken hängt zum Beispiel ein Investitionsvolumen von einer Milliarde Mark, das der heimischen Wirtschaft zugute kommen kann. Was passiert, wenn das ausfällt? Anstatt das öffentliche Eigentum zu verkaufen, soll man es klug bewirtschaften. Außerdem müßte sich die öffentliche Hand stärker an gefährdeten Privatunternehmen beteiligen, um sie zu erhalten. Thüringen, Bayern und auch Sachsen sind da viel aktiver. Interview: Hannes Koch