Nahkampfzonen

Wer früher uneingeschränkte Solidarität mit Ausländern demonstrierte, hat heute auch schon einmal etwas zu verlieren. Die bunten Multikulti-Jahre sind vorüber. Im Kiez herrscht der Kampf um kulturelle Hegemonie. Zum Beispiel in Berlin-Kreuzberg  ■ Von Eberhard Seidel-Pielen

Seit der Mythos vom edlen Ausländer verblaßt ist und sich herumgesprochen hat, daß Einwanderer mitunter ziemlich antiwestlich, sexistisch, ja fundamentalistisch sein können, wissen auch Zeitgenossen, die dem grün-alternativen Lager angehören, nicht mehr so recht, was sie mit einem ihrer früheren Lieblingsthemen anfangen sollen. Im Laufe der neunziger Jahre hat die Bereitschaft, bürgerrechtliche Forderungen der Minderheiten zu unterstützen, abgenommen. Es ist das Ergebnis einer langjährigen Verdrängung der Tatsache, daß Einwanderung auch Ungleichzeitigkeiten, Differenz und sich widersprechende Wertesysteme bedeutet.

Das Eingeständnis macht sich Luft, daß sich im Mikrokosmos des Wohnbezirkes die Konfrontationslinien der multikulturellen Gesellschaft anders darstellen als im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang. Machogehabe liegt im scheinbar unversöhnlichen Konflikt mit feministischen Kommunikationsgeboten. Alternative Verhaltenskodizes prallen auf expressive Verkehrsformen der Unterschicht. Wir erleben im Moment im linksliberalen Milieu ein lustvolles Türkenbashing. Endlich darf, ja muß über das geredet werden, was man bislang dem politischen Gegner auf der Rechten mit emphatischer moralischer Geste verbieten wollte – Fundamentalismus, türkische Gewaltkultur und Nationalismus.

Höchste Zeit, am Beispiel Berlin-Kreuzbergs an ein paar Fakten zu erinnern. Zwischen 1987 und 1997 stieg die Arbeitslosenquote dort von siebzehn auf über dreißig Prozent. In zwei Jahren wird die Jugendarbeitslosigkeit bei sechzig Prozent liegen. Und hätte die türkische Community in den letzten zehn Jahren nicht zur Selbsthilfe gegriffen und eine Nischenökonomie – vor allem im Bereich der Dönerindustrie in Berlin und den neuen Bundesländern – aufgebaut, läge die Arbeitslosenquote schon heute erheblich höher.

In Kreuzberg sind die dramatischen weltwirtschaftlichen Entwicklungen deutlicher spürbar als in anderen Regionen der Republik. Der erste Arbeitsmarkt braucht einen großen Teil der Kreuzberger mit geringer Bildung nicht mehr und wird sie in Zukunft auch nicht mehr brauchen. Selbst dann nicht, wenn sich das Bildungsniveau zum Beispiel der Schulabgänger türkischer Herkunft in nächster Zukunft heben sollte. Ähnlich wie in den französischen Banlieues sind die meisten Jugendlichen aus Einwandererfamilien in Kreuzberg auf Dauer arbeitslos. Womit sie es besonders schwer haben, eine Verbesserung ihrer Lebenssituation gemeinsam zu organisieren.

Lumpenproletariat in Markenklamotten

Was bleibt, sind individuelle Überlebens- und Darstellungsstrategien, die selbstorganisierte Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums und das Zurschaustellen der eigenen physischen Existenz. Von der Öffentlichkeit werden die Protestformen dieses Lumpenproletariats in Markenklamotten als Vandalismus, Kriminalität oder Machogehabe interpretiert.

Es macht so gesehen Sinn, daß sich die Berliner Innenpolitik auf das Zurückdrängen der Bettelei und den Kampf gegen Graffiti konzentriert. Beides sind Ausdrucksformen, die die verlorene Integrationskraft der Gesellschaft dokumentieren, sind Protestformen, denen ein Ende gesetzt werden soll, nachdem der Widerstand der Arbeiter im Produktionsprozeß bereits in der ersten Hälfte der achtziger Jahre gebrochen wurde. Die „Überflüssigen“ sollen nicht nur geräuschlos vom Arbeitsmarkt verschwinden, sondern auch aus dem öffentlichen Raum, damit der Schein einer funktionierenden bürgerlichen Öffentlichkeit aufrechterhalten werden kann.

Die Begeisterung für den New Yorker Exportschlager „Zero-Tolerance“ – die Polizeistrategie, selbst Bagatelldelikte scharf zu verfolgen – ist in diesem Kontext zu sehen. Es ist das angemessene Konzept der Kriminalitätsbekämpfung für eine Gesellschaft, die den Glauben an ihre Veränderbarkeit aufgegeben hat und nicht mehr bereit ist, in den sozialen und gesellschaftlichen Konsens zu investieren. Eine Gesellschaft, die sich auf die normative Kraft der Repression verständigt hat. Dazu ist es notwendig, die Formierung straffällig werdender Gruppen aus dem Entstehungskontext der ökonomischen Entwicklung herauszureißen und als ethnisches Problem zu beschreiben. Das linksliberale Milieu spielt dabei mit.

Augenblicklich konzentriert sich die Diskussion auf laut auftretende türkische und arabische Jugendliche. Über sie erregt sich längst nicht mehr nur der Spiegel in seinen Frontberichten aus den multikulturellen Nahkampfgebieten der Republik. Auch die informellen Gesprächskreise in linksalternativen Kreisen vermitteln den Eindruck, daß diese jungen Männer tatsächlich den inneren Frieden bedrohen.

Wohlfeile Ideologie statt Solidarität

Dabei weiß jeder halbwegs gebildete Zeitgenosse, daß es einen direkten Zusammenhang gibt zwischen der Rolle des einzelnen im Verwertungsprozeß und der Art und Weise, wie er am gesellschaftlichen Leben teilnimmt, welche Straftaten er begeht, welche Formen ideologischer Bewältigungsversuche und Psychostrukturen daraus resultieren. Aber in der Öffentlichkeit ist man mangels solidarischer Perspektiven längst auf das wohlfeile Feld der Ideologie ausgewichen.

Folglich wird sowohl von den Minderheiten als auch von der Mehrheitsgesellschaft auf Teufel komm raus ethnisiert. Die Türken werten die Tatsache, daß sie überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen sind, als ein Zeichen rassistischer Diskriminierung. Natürlich gibt es diese Fälle. Aber das ändert nichts daran, daß die überproportionale Arbeitslosigkeit von Ausländern vor allem mit der Schichtzugehörigkeit und dem Bildungsgrad zu tun hat. Der Arbeitsmarkt kann auf gering Gebildete verzichten, egal ob sie nun türkischer oder deutscher Herkunft sind. Diese Erkenntnis ist für jeden, den es trifft, schmerzlich. Und es spendet Trost, wenn man die eigene prekäre Lage nicht als zwangsläufig, sondern als böswillig verursacht erklären kann. Die Ethnie oder die Religion wird zur letzten Bastion möglicher Solidarität.

Auch die Mehrheitsgesellschaft findet zunehmend Gefallen an der Ethnisierung sozialer Konflikte. Sie hat das Bewußtsein von der Veränderbarkeit der Gesellschaft aufgegeben. Daß kaum einer noch ernsthaft an Verteilungsgerechtigkeit und an die Finanzierbarkeit von Mindeststandards sozialer Rechte glaubt, wirkt auf den Diskurs zurück. Nicht mehr die Startnachteile randständiger Jugendlicher, nicht mehr die Diskriminierung von Minderheiten und ihre politische sowie rechtliche Gleichstellung beschäftigen heute viele ehemalige Fürsprecher einer multikulturellen Gesellschaft, sondern die Bedrohung der Qualität städtischen Lebens durch ebendiese.

Es wäre verkürzt, diesen Paradigmenwechsel in der Debatte dem Spiegel oder Samuel Huntington und dessen These vom „Kampf der Kulturen“ anzulasten. Bleiben wir beim grün-alternativen Milieu. Hier haben sich dramatische Änderungen vollzogen. Nur dreißig Jahre nachdem eine alternative, linke und liberal-bürgerliche Öffentlichkeit damit begonnen hatte, die Bundesrepublik in eine offene Gesellschaft zu verwandeln, macht sich auch hier die Erkenntnis breit: Wir haben etwas zu verteidigen.

Verfallsdatum grün- alternativer Werte

In Stadtteilen wie Kreuzberg, in denen sich in den letzten Jahrzehnten eine alternative Beschaulichkeit – manche halten das auch für Urbanität – entwickelt hat, ist eine Generation gealtert, die sich jahrelang in Initiativen, Verwaltungen und Parteien um eine Verbesserung der Lebensqualität mühte. In diesen fortschrittlichen Kreisen, im Alter zwischen vierzig und sechzig, wächst die Sehnsucht nach Übersichtlichkeit. Gleichzeitig bemerken viele, daß sie nach dem Zusammenbruch des eigenen alternativen Milieus nicht nur die kulturelle und politische Hegemonie im Kiez verlieren, sondern sich in all den Jahren selber auch keinen Ort der Heimat geschaffen haben. Sie machen die schmerzhafte Erfahrung, daß Urbanität nicht statisch, sondern Veränderungen unterworfen ist. Auch von Grün- Alternativen erstrittene Werte und Umgangsformen haben ein Verfallsdatum. Ebenso ihre kulturelle Dominanz.

Mit der einst so euphorisch begrüßten Zuwanderung verändert sich der Stadtteil. Und dies um so mehr, als die Zuwanderer just das tun, was die Linksliberalen stets gefordert haben. Sie haben sich emanzipiert, ihre subalterne Rolle hinter sich gelassen, zeigen Präsenz und werden zu neuen Trägern des sozialen, kulturellen und politischen Lebens. Ein komplexes Geflecht von Milieus durchzieht den Stadtteil. Und häufig sind deren Umgangs- und Verhaltensformen schwer mit grün-alternativen Dogmen zu vereinbaren.

Viele Alternative verzweifeln an diesen Herausforderungen. Ihre Klagen unterscheiden sich nicht allzusehr von der Erregung deutscher Arbeiter vor dreißig Jahren, als sich deren Wohnviertel von einem auf die Mitte Europas hin zentrierten Proletarierviertel in rasantem Tempo zu einem Einwandererviertel wandelte. Viele dieser Arbeiter flohen vor der Fremdheit in die neu entstandenen Trabantenstädte wie das Märkische Viertel in Berlin. Nicht wenige Grün-Alternative verhalten sich Ende der neunziger Jahre ganz ähnlich. Sie ziehen in die alternativen, aber deutschen Bezirke Ostberlins, ins deutsch-homogene Umland oder kehren der Region den Rücken, um zurück in die westdeutschen Kleinstädte zu gehen, aus denen sie einst aufgebrochen sind, um, wenn nicht die Welt, so doch Kreuzberg zu verändern.

Bei den Zurückgebliebenen schleichen sich zunehmend Gefühle der Fremdheit und Heimatlosigkeit ein, die häufig in Kulturpessimismus münden. Den Wandel ihrer inneren Einstellung zur multikulturellen Gesellschaft wollen sie sich ebensowenig eingestehen wie die Tatsache, daß sie zu Interessenvertretern und kulturellen Besitzstandswahrern in eigener Sache geworden sind. Folglich wird das Ressentiment intellektuell überhöht und mutiert zum Kampf der Kreuzberger (Kiez-) Kulturen.