Ein entflochtener Lorbeerkranz

Die Polenpolitik der Bonner Republik, eine Erfolgsgeschichte, die der Entmystifizierung harrt. Dieter Bingen versucht dies erfolgreich. Seine Schilderung aus milder Distanz ist allerdings etwas kanzlerfixiert  ■ Von Mareile Ahrndt

Das Leitmotiv der westdeutschen Politik gegenüber Polen, so Dieter Bingen in seiner umfassenden Studie „Die Polenpolitik der Bonner Republik von Adenauer bis Kohl 1949–1991“, sei die ganzen Jahrzehnte hindurch immer dasselbe gewesen: Frieden mit dem polnischen Staat, Verständigung und Versöhnung mit dem polnischen Volk. Hehre Pläne, wenig in die praktische Politik umgesetzt: „Einer Politik der Rechtsvorbehalte, des Alleinvertretungsanspruches, der jede Aktivität gegenüber Warschau lähmte, und des ,Niemals‘ mit Blick auf die Oder-Neiße-Grenze gegenübergestellt, konnte das neue Leitmotiv fast eineinhalb Jahrzehnte lang kaum etwas ausrichten.“

Innenpolitische Rücksichtnahmen auf die Vertriebenenverbände und das überlange Festhalten an der „Pfandtheorie“ (Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze gegen die Zustimmung zur Wiedervereinigung) waren die zwei Konstanten bundesrepublikanischer Politik gegenüber Polen. Dieter Bingen, Wissenschaftler am Kölner Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, geht in seiner Schilderung dieser Konstanten chronologisch und auf die Kanzler bezogen vor.

Als erstes räumt er mit der Mär vom Vermächtnis Konrad Adenauers auf. Adenauers Anstrengungen bei der Aussöhnung mit Frankreich und mit dem jüdischen Volk haben laut Bingen in bezug auf Polen nie eine Fortsetzung gefunden. Wer das behaupte, der nehme Rhetorik für Konkretes. Adenauers Ideen- und Tatenlosigkeit gegenüber Osteuropa fand nach Bingen ihr Pendant in einer Haltung bei der Bevölkerung , die den Verlust der deutschen Ostgebiete, die Flucht und Vertreibung im Bewußtsein fixierte, während sie die deutschen Verbrechen im besetzten Polen verdrängte. Die Deutschen wollten sich für Opfer halten. Sie sollten es sein, die Forderungen stellen durften. Realpolitik konnte auf diesem Boden nicht wachsen, offene Debatte schon gar nicht.

Adenauer verankerte eine Grundmaxime in der Ostpolitik: „Moskau zuerst!“ und den aus ihr folgenden niedrigen Rang, den Polenpolitik einnahm. „Moskau zuerst“ war auch der Ausgangspunkt unter Willy Brandt. Es war der sowjetische Außenminister Gromyko, mit dem Brandts Helfer Bahr zunächst über die bilateralen deutsch-polnischen Beziehungen verhandelte.

Dann drifteten Aussöhnungsgedanke und Interessenpolitik auseinander. Brandt hatte die Erkenntnis deutscher Schuld aufwerfen und danach Politik betreiben können. Basis dafür war das Engagement gesellschaftlicher Gruppen – Kirchen, Schriftsteller, Bürgerinitiativen –, aber auch die Absage der westdeutschen Eliten an territoriale Großmachtträume.

Bingen muß aus seiner kanzlerzentrierten Sichtweise ausbrechen, um das enorme Spannungsfeld, in dem Polenpolitik stattfand, aufleben zu lassen: innenpolitische Instrumentalisierung bis zur Verantwortungslosigkeit auf der einen Seite, eine gewichtige moralische Komponente auf der anderen Seite.

Darauf reagierten die Akteure: Für Adenauer war Moral, mit Kommunisten nicht zu reden, für Brandt, die „Pfandtheorie “ endlich fallen zu lassen und den Polen Grenzgarantien zu versprechen. Helmut Schmidt schließlich zog eine pragmatische Konsequenz: das Staatsgebilde Polen zu respektieren und sich im übrigen nicht einzumischen.

Schmidts Politik stand mit beiden Füßen auf dem Boden. Der Schwerpunkt auf der Wirtschafts- und Finanzpolitik wirkte auch auf die Ostpolitik. Bingen bewertet Schmidt positiv – bis zur Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981. Solidarność wurde nach wie vor nicht von Schmidts Polenpolitik unterstützt. „Die ursprünglich innovative Ostpolitik war endgültig an die Grenzen ihrer inneren Logik gestoßen. Auf Wandel von unten fand sie keine Antwort.“

Auf der einen Seite der Wunsch nach Verständigung, auf der anderen Seite ein Gesprächspartner, der demokratisch nicht legitimiert war, der diktatorisch über sein Volk herrschte. Schmidt hat dieses Knäuel gar nicht erst zu entwirren versucht, für seinen Nachfolger Helmut Kohl löste es sich von selber auf – er hatte „am Ende Fortüne“. Selbst in dieser Gunst der Stunde machte er noch Fehler – etwa die Herauszögerung der Grenzanerkennung. An Worten jedoch hatte Kohl es auch vorher nicht mangeln lassen, und so konnte er nach Abschluß der Verträge seine gesamte Polenpolitik als nach dem Vorbild des guten Verhältnisses zu Frankreich und Israel modelliert loben.

Bingen erlaubt sich einen galanten Schwung, um die goldene Gegenwart als Ergebnis der vergangenen Jahrzehnte, ihrer mühsamen Aufarbeitung, ihrer Selbstkritik, ihrer Vorurteilsbekämpfung zu bezeichnen. Daß dazu die „Zögerer und Verursacher innenpolitischer Fehden in polnischen Angelegenheiten beigetragen haben“, sei „geradezu eine List der Geschichte.“

Ob man die Vorgehensweise, die Polenpolitik vom jeweiligen Kanzler und dessen Innenpolitik herzuleiten, richtig findet oder nicht – Bingen vollführt sie von den Hauptüberlegungen herunter in jeden Teilgedanken mit Kompetenz. Unparteiisch Stellung beziehen, Bingen gelingt das.

„Die Polenpolitik der Bonner Republik“ liefert endlich einen Überblick und kann Kontinuitäten und Wandel herausschälen. Ein bis zur Solidarność-Zeit vorherrschendes Kontinuum jedoch, die Überschätzung der politischen Stabilität im kommunistischen Osteuropa, schneidet Bingen nur ab und zu an; ein so schwerwiegender Aspekt hätte grundlegender Ausführung bedurft. Die Probleme der Polenpolitik Schmidts wurzelten in dieser Fehleinschätzung, deren Einfluß auf die Entwicklung in Osteuropa bisher kaum untersucht worden ist.

Daß Bingen ferner die Aktendeckel der innenpolitischen Instrumentalisierung zuschlagen will, ehrt ihn. Dabei mißachtet er aber, daß die Vorreiterrolle gerade des wirtschaftlich rückständigen Polens in Richtung Europäische Union erneut Kritik hervorruft: Kohl wolle sein Vermächtnis durchboxen, bezahlen solle das die Bevölkerung.

Trotz wenig „schöner“, markanter Sätze, trotz der Erbostheit über vieles in der Polenpolitik selber, möchte man bei dieser Untersuchung fast von Lesevergnügen sprechen. Ins Polnische ist sie bereits übersetzt.

Dietrich Bingen: „Die Polenpolitik der Bonner Republik von Adenauer bis Kohl 1949–1991. Nomos-Verlag, 1997, 379 S., 78 DM