In der Muschel wohnen

Verinnerlichungsbilder aus der Urzelle. Walter Benjamins Briefe aus dem „Grunewaldzimmer“ und von anderswo  ■ Von Michael Westphal

„Ich hauste“, schrieb Walter Benjamin in seinem Buch „Berliner Kindheit“, „wie ein Weichtier in der Muschel im neunzehnten Jahrhundert, das nun hohl wie eine leere Muschel vor mir liegt. Ich halte sie ans Ohr.“ Diese Allegorie ist als Pars pro toto für Benjamins Selbstverständnis und sein gesamtes Kunstschaffen zu sehen. „Anstatt Erinnerungen an Erfahrungen, liefert Benjamin Bilder und Symbole von verborgenen Geheimnissen“, beschrieb Karl Heinz Bohrer in seinem jüngsten Buch „Der Abschied – Theorie der Trauer“ dieses literarische Verfahren bei Benjamin, das „sich wegbewegt von den Ereignissen hin zu den bedeutsamen Gegenständen“. Freilich spricht daraus auch eine grundsätzliche Reserviertheit, die Begegnungen mit Menschen und Freundschaften distanziert und sie bevorzugt im Brief sucht.

Eine Voraussetzung für Benjamins enorme Produktivität, die nicht zuletzt das Konvolut an Briefen bezeugt, war die Isolation und Einsamkeit. Das Material, das Zitat, die Dinge, das Interieur bilden dabei den Kern in Benjamins Werk: „Funken aus den vielen Steinen zu schlagen“, beschreibt er selbst seine Arbeitsweise.

Benjamin lebt am Ende der Weimarer Republik in seinem Berliner Elternhaus, Grunewald, Delbrückstr. 23, von wo aus die meisten der hier versammelten nahezu 300 Briefe adressiert sind. An der Muschel zu horchen offenbart den Wunsch nach erinnernder Wiederherstellung von Vergangenem, der das erste und haptische Muschelsammeln mit dem späteren reflexiven Bewußtsein des Kritikers und Melancholikers verbindet. In dem Muschelbild drückt sich aber auch ein regressives, ein archaisches Urphänomen aus. Gaston Bachelard hat in seiner „Poetik des Raumes“ die Muschel als Urform der Behausung gedeutet. Wohnen als Idee des Immer- schon-da-Gewesenen, des Urgeschichtlichen. Und Benjamin, der die Pariser Passagen als „Höhlen mit den Fossilien eines verschollenenen Urtiers“ bezeichnete, der fand in einer grünen Höhle den Schutz, den jedes konzentrierte Projekt unbedingt benötigt: „Die Arbeit über Pariser Passagen hat mich ganz in sich hineingezogen und tags verläßt mich die pergamente Hülle in der sie sich befindet, sehr selten, nachts liegt sie neben dem Bett...“

Unmittelbar im Anschluß, an seinen Freund Alfred Cohn gerichtet, heißt es: „Vielleicht weißt Du nicht, daß ich jetzt nicht im Grunewald wohne, sondern ein merkwürdiges Zimmer im ältesten, verschlossensten Westen, In den Zelten, bezogen habe, aus dessen Fenstern nichts als Grün mich ansieht. Das Grün des Tiergartens, der in diesem Teil ein Fremdengeheimnis von Berlin ist. Berliner kommen ja da nicht mehr hin, aber kleine Leute aus der entlegensten Provinz, denen es selbstverständlich ist, sich am Anhalter Bahnhof mit ihrer Handtasche in eine Droschke zu setzen, werden von eisgrauen Kutschern an meinen Fenstern vorbeigefahren.“ Das Zitat ist eines der für Benjamin typischen „Verinnerlichungsbilder“, wie es Karl Heinz Bohrer genannt hat. Was aber das „Tiergartenzimmer“ betrifft, erprobt sich darin eine literarische Praxis, die Bohrer ebenfalls an der „Berliner Kindheit“ dingfest gemacht hat. Ist es nicht bezeichnend, daß Benjamin seine Ereignisse nicht aufsucht, sondern daß sie zu ihm kommen, geradewegs am Fenster vorbei? Er braucht sie nur zu registrieren und bequem niederzuschreiben. Und noch etwas: Er hält das pittoreske Bild einer Droschke fest, die zum Zeitpunkt der Niederschrift bereits aus der Mode ist. Die skizzenhaften Berliner Kindheitsmemoiren und das „Passagenwerk“ sind in diesem Briefausschnitt bereits enthalten.

Der allegorische Gehalt dieser kleinen Tiergartenepisode spiegelt aber auch ein Dichterbild wieder. Wie Benjamin kurz ins Souterrain einer Schusterwerkstatt schauen kann, beim Zugfahren ad hoc in eine ärmlich beleuchtete Wohnküche hineinblickt, so gewährt er kurz, wie im raschen Öffnen der Blende eines Fotoapparats, Einblick in sein Dasein. Es sind die „Urzellen“ mit existentieller Ausstrahlungskraft, die ihn anzogen und die er mit dem nachgestellten Blick des Kindes betrachten wollte. Wären da nur nicht die konvexen Brillengläser des Intellektuellen, die die Abbildungen auf der Netzhaut frisieren und die zahlreichen Dioptrien ausgleichen.

Der Schreibende selbst hat sich in einer „Urzelle“ eingerichtet: „Wenn Du dies liest, bin ich vermutlich nach Berlin unterwegs. Es wird Zeit, auch nach meinen Büchern zu sehen.“ Die Sorge um die Bücher gibt das Lebenselixier preis. Aufbewahrt ist mit ihnen in den Regalen und Kisten die eigentliche Substanz. Seine Empfänger wissen es mit jeder Zeile – und haben auch dann Verständnis, wenn Benjamin den Federhalter unvermittelt zuschraubt, um dann doch noch eine kleine, eitle Information in eigener Sache nachzureichen, die für ein Postskriptum zu schade wäre: „Leider ist heute abend noch allerhand zu besorgen und ich muß schließen. An der Potsdamer Brücke hat heute eine Buchhandlung ein Sonderfenster mit meinen Schriften eingerichtet...“ Die emsige, nimmermüde Korrespondenz, die Benjamin fast immer handgeschrieben ausführte, war – ohne um seine Person und seine Psyche viel Aufhebens zu machen – trotzdem eine Art physischer Beweis für seine Existenz, von der die eingetauchte und geführte Feder, ihr Kratzen auf dem sorgsam ausgesuchten Papier, das Aufkleben der Marke und das Zuklappen des gußeisernen Briefkastens zeugten.

Benjamin lebte als freier Autor, als Übersetzer, vor allem als Rezensent von Neuerscheinungen, und er läuft zu Hochform auf, wenn seine favorisierten Bücher im Grunewald eintreffen: „...heimse die letzten Dedikationsexemplare ein, halte auf meine Weise literarische Traubenlese.“ Daß das nicht immer so ist, belegen die sorgfältigen Anmerkungen der beiden Herausgeber, die nicht Ausgeführtes, nicht mehr zu Ermittelndes, Verschollenes protokollieren. Feinfühligen Umgang, mitunter ironisch pointiertes Antichambrieren, verlangt der Schriftverkehr mit dem Mitarbeiter der Frankfurter Zeitung, Siegfried Kracauer, wenn dieser Bücher zur Besprechung herausrücken oder ein unangefordertes Manuskript drucken soll: „Lieber Herr Kracauer, Ich bitte Sie, das beiliegende Manuskriptchen zu lesen. Sie werden dann verstehen, warum ich – schon beim Schreiben – an Sie gedacht und im Geist es in den Feuilleton-Raum der Frankfurter Zeitung einquartiert habe. Es hängt nun von Ihnen ab, ob Sie Kontrakt machen wollen. Jedenfalls müssen Sie mir einräumen, daß ich diesmal bei meinen Leisten geblieben bin.“ Und noch einmal an Kracauer heißt es in einem anderen Brief – und das ist bei Benjamin schon das Höchstmaß an Ungeduld –: „Kann meine Rezension von Fiesel: Die Sprachphilosophie der deutschen Romantik bald erscheinen?“

Das brenzlige Thema der Honorarzahlungen begleitet auch den III. Band der Briefe. „Darf ich Sie schließlich noch mit der Geldseite der Sache einen Augenblick befassen ... Es wäre für mich von hohem Wert, wenn ich in einem Monat darüber verfügen könnte.“ Fast devot tritt Benjamin an Hugo von Hofmannsthal heran, an dessen Beurteilung des Trauerspiel-Buches ihm sehr gelegen ist: „Es wäre mir empfindlich, wenn mit diesen wenigen Worten ich etwas Fremdes Ihnen vorgetragen haben sollte, wenn die Gedanken meines neuen Buches darin dem Geiste Ihres Werkes unziemlich begegnet wären. Ich hoffe, dem ist nicht so und diese Gedanken werden Sie nicht hindern, bei gelegener Zeit einen Blick in das Manuskript zu werfen, das Ihnen mit gleicher Post zugeht.“

Für Benjamin war der Brief als kommunikatives Medium wie geschaffen. Auch die Zeit, die er bis zu seinem Empfänger benötigte, war eine kalkulierte Möglichkeit der Distanz, der höflich-distinguierten Rückversicherung: „Sehr verehrter Herr Doktor Buber“, schreibt Benjamin aus Paris, „Sie werden nicht gut von mir gedacht haben: ich habe sehr lange nicht von mir hören lassen.“ Oft steckt dahinter ein subtil und von Ferne bekundeten Lebenszeichens, das ein neues Projekt ankündigt oder zu dokumentieren hilft: „Im Brief vermag man die Abgeschiedenheit zu verleugnen und gleichwohl der Ferne, Abgeschiedene zu bleiben“, wie Adorno diesen für Benjamin vortrefflichen Vorteil festgehalten hat. Wenn aber schließlich ein Brief auf dem Postweg verschollen geht, wird dieses mentale Einvernehmen empfindlich gestört: „Ich bin unglücklich, daß Du einen langen Brief von mir nicht bekommen hast. Hier schreibe ich meine Adresse nochmals genau: 4 Avenue du parc Montsouris Hotel du midi“ – und damit künftige Verluste auszuschließen sind, fügt Benjamin seine genaue Zimmernummer hinzu: „R.Z. 426.“

Vor seiner Emigration und nach der provisorischen Unterkunft im Tiergarten muß Benjamin das Elternhaus in Grunewald schließlich aufgeben. Die letzten Berliner Briefe gehen aus der Wilmersdorfer Prinzregentenstraße 66: „Es ist das erste Mal, daß das Leben mich in ein Atelier verschlagen hat... Neben erdenklichen Vorzügen, vor allem dem der tiefsten Stille, hat es innen wie außen architektonisch bemerkenswerteste Nachbarschaft.“ Der Stille des letzten Berliner Refugiums weht schon bald stürmisch der Wind vom Exil entgegen.

Wie das Weichtier seiner Muschel beraubt, so war auch Walter Benjamin fortan, nicht einmal fünfzigjährig, schutzlos ausgeliefert. In der maritimen Umgebung des spanischen Port-Bou sah er sich, vielleicht eingedenk dieses Bildes aus seinen Kindheitserinnerungen, frontal den finsteren Zeiten des 20. Jahrhunderts gegenübergestellt. In das 19. Jahrhundert konnte er nicht zurück, in das 20. wollte er nicht mehr. „Sehen Sie bitte“, schreibt Benjamin am 26. Juni 1926 noch aus seinem „Grunewaldzimmer“ an Hugo von Hofmannsthal, „...in diesem Brief nicht nur den Rechenschaftsbericht, sondern den Wunsch, in Ihrer Erinnerung zu bleiben.“ Insofern trifft Adorno den Kern, wenn er schreibt: „Seine Haltung als Briefschreiber neigt sich der des Allegorikers zu: Briefe waren ihm naturgeschichtliche Bilder dessen, was Vergangenes überdauert.“

Walter Benjamin: „Gesammelte Briefe. Band 3: 1925–1930“. Hrsg. von Christoph Gösse und Henri Lonitz. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1997, 580 S., 98 DM