Straßen frei für die neue A-Klasse

Wie Arbeitslose auch im kommenden Monat versuchen werden, den Protest zu gestalten. Während die Initiativen im Westen über leichte Depressionen klagen, formiert sich im Osten ein breiter Protestwille  ■ Aus Berlin Annette Rogalla

Drei Jahre lang schrieb Istvan Mehesz aus Oberberg im Bergischen Land seine Bewerbungen und bekam einen Stapel von 250 Absagen zurück. Diese Abweisungen konnte der 50jährige Diplom- Ingenieur noch ertragen. Als aber der Nestlé-Vorstandsvorsitzende Helmut Maucher in einem Fernsehinterview Arbeitslose als „Wohlstandsmüll“ bezeichnete, reichte es. Mehesz zog vor das örtliche Arbeitsamt, am 7.Februar, dem allgemeinen Protesttag. Doch kein Leidensgenosse war zu sehen. Also telefonierte Mehesz nach Bielefeld. Dort, in der „Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen“, werden die Fäden der landesweiten Aktionen gezogen. Seit dem ersten Aktionstag lebt Angelika Beier auf, eine von zwei hauptamtlichen Koordinatoren. So viele Anrufe wie in den letzten Tagen habe sie in all den vergangenen Jahren nicht erhalten. „Überwältigend“ sei dieser erste Aktionstag gewesen. „Mindestens 35.000 Arbeitslose haben die Gunst der Stunde erkannt“, schwärmt Beier. Und viele, die sich beim ersten Mal noch nicht getraut hätten, auf die Straße zu gehen, riefen jetzt an, um für den zweiten Tag, den 5.März, gewappnet zu sein.

Auch Istvan Mehesz ließ sich telefonisch aufmuntern. Nun steht er tagsüber vor dem Arbeitsamt in der kleinen Stadt Oberberg und sucht per Handzettel Mitstreiter für den 5.März, wenn der neue Arbeitslosenrekord verkündet wird. „Alle sind wütend, aber es ist sehr schwierig, die Leute zu konkreten Demos zu mobilisieren“, seufzt er.

In Berlin gibt es immerhin 30 Arbeitslosengruppen. Trotzdem gingen hier nur 2.000 Menschen auf die Straße. In Recklinghausen zogen nur 100 Leute vor das Arbeitsamt. Daß die gewerkschaftlichen Arbeitsloseninitiativen nur so wenige Menschen mobilisierten, erklärt Horst Themann vom DGB Recklinghausen damit, „daß die Luft raus ist. Die Menschen haben sich an ein Leben ohne Arbeit gewöhnt.“ Eine Million Erwerbslose sind noch Mitglieder in einer Gewerkschaft.

Hoffnungslosigkeit registriert auch Georg Howard von der Duisburger Beratungsstelle für Langzeitarbeitslose. Mit seinen Sozialarbeiterkollegen macht er Programm gegen die Depression. Zwischen neun und 17 Uhr: Frühstück, Wandergruppen, Computerkurs. Trotz solcher Hilfestellung, den Tag zu strukturieren, gewöhnt sich der Mensch schnell daran, träge durch sein Leben ohne bezahlte Arbeit zu schwimmen. Das Interesse an politischen Auseinandersetzungen lasse rapide nach, beobachtet Howard. Daher verwundert es ihn nicht, daß am 7.Februar nur wenige kamen. Von 37.000 registrierten Arbeitslosen in Duisburg gingen nur 300 auf die Straße. Kraft und Widerstand, die der Ortsteil Rheinhausen in den vergangenen zehn Jahren ausstrahlte, scheinen vergessen. Verbissen hatten die Stahlarbeiter von Krupp damals um jeden Arbeitsplatz gekämpft. Vergessen scheinen die 160 Protesttage, geschenkt die Nacht der tausend Feuer, die Demonstration von 27.000 Arbeitern.

Die kämpfenden Stahlarbeiter von damals mit den Arbeitslosen von heute zu vergleichen, findet Howard nicht statthaft. Die ganze Region ticke mittlerweile in einem anderen Takt. „Seinerzeit waren alle Kruppianer und dachten, das Werk gehöre ihnen“, sagt er. Damals hätten alle mit derselben Identität der industriellen Großfamilie gelebt. Der Abschied von den Hochöfen wurde ihnen leichtgemacht. Ausgeklügelte Sozialpläne verhinderten den finalen Aufstand. Vor vier Jahren konnten „Kruppianer“ mit 52 Jahren – bei einer Garantie von 92 Prozent ihres Nettolohns – in den frühzeitigen Ruhestand gehen. Der andere Teil der Belegschaft wurde umgeschult oder bekam einen anderen Arbeitsplatz. Die Proteste der Stahlkocher zahlten sich aus.

Heute, bei einer Arbeitslosenquote von 20 Prozent, sind diese Szenen Vergangenheit. „Arbeitslosigkeit stiftet eben noch weniger Identität als der Satz ,Ich bin Bodybuilder‘“, meint Howard leicht resigniert.

Ob in Duisburg, Berlin oder Bremen: Den Arbeitsloseninitiativen dürfte es unter solchen Voraussetzungen schwerfallen, die Massen für den Aktionstag im März zusammenzutrommeln. „Viele haben die nötige Wut im Bauch, werden aber mutlos, wenn sie an die Perspektive des Protests denken“, sagt Howard.

Die landesweiten Aktionsgruppen kämpfen aber auch damit, unterschiedliche Forderungen zu vertreten. Im Februar wurde zumindest im Westen noch gegen die dreimonatliche Meldepflicht und das Vorzeigen von Bewerbungsschreiben bei den Ämtern demonstriert. Ab März nun soll die Parole schlicht heißen: „Kohl muß weg“. Die Forderung nach einer neuen Regierung, so auch Angelika Beier von der Koordinierungsstelle Bielefeld, lasse zumindest die Hoffnung zu, daß sich bis September der Protest zu einer „neuen sozialen Bewegung“ hochschaukelt.

Gewerkschaften, SPD, Grüne und der PDS würde ein solcher Schwenk ins Allgemeine gleichermaßen ins Konzept passen. Unter diesen Vorzeichen würden auch sie sich stärker aktivieren lassen.

Peter Grottian, Berliner Politologe an der Freien Universität, befürchtet jedoch, daß die konkreten Forderungen der Arbeitslosen durch allgemeine Parolen verwässert, daß Gewerkschaften und Parteien mit ihren organisatorischen Apparaten die locker verbundenen Arbeitsloseninitiativen vereinnahmen werden.

Die Umdeutung des Arbeitslosenprotests in eine „Anti-Kohl- Bewegung“ würde in Erfurt allerdings niemanden ärgern. Im dortigen Arbeitsamtsbezirk sind 48.000 Menschen erwerbslos gemeldet, 7.000 versammelten sich im Februar unter dem Motto: „Arbeitslos, aber nicht wehrlos“. Den Aktionstag mitorganisiert hatte Karin Schrappe von der dortigen Arbeitsloseninitiative. „Uns geht es nicht um eine Anhebung der Arbeitslosengelder“, sagt sie. „Wir wollen Arbeit, Vollbeschäftigung und Lebensqualität.“

Viele Rentner geleiteten die Arbeitslosen zum Arbeitsamt. Aus Sorge, daß auch ihnen eines Tages der Lebensunterhalt zusammengestrichen werde, sagt Schrappe. Die Ostdeutschen hätten ohnehin materiell nichts mehr zu opfern. Und Scham, als Versager zu gelten, wenn man den Job verliert, empfinde in Ostdeutschland kaum jemand. Die Protagonisten des neuen Wirtschaftssystems zögen schließlich seit acht Jahren als Jobkiller durchs Land.

Mehr als drei Viertel aller Industriearbeitsplätze in Ostdeutschland gingen verloren. Alle, die in Erfurt protestierten, haben eine Grunderfahrung gemacht: Treuhand, Bundesregierung und Unternehmen entscheiden über ihre Köpfe hinweg. Diese Identität verbindet und läßt den Protest reibungsloser organisieren. Denkbar, daß bei der nächsten Demonstration am 5.März Politiker wie Wolfgang Thierse (SPD) oder Gregor Gysi (PDS) an die Mikrofone gehen. Diese beiden Politiker sind schon lange darüber verbittert, wie die Bonner mit Ostdeutschland umspringen.