Klau am Bau und anderswo

■ Durch Diebstahl am Arbeitsplatz entsteht der Wirtschaft keineswegs nur Schaden. Er erhöht auch die Identifikation mit dem Betrieb

Laut einer Umfrage der Hermes Kreditversicherung entsteht der Berliner Ökonomie jedes Jahr durch den „Klau am Arbeitsplatz“ ein Schaden von 1,75 Milliarden Mark. Das ist grober Unfug! Wie einem jeder nicht auf den Kopf gefallene Unternehmer versichern kann, „reorganisieren“ die Mitarbeiter gerade mit Diebstählen ihre immer wieder durch den Profitzwang (die Gewerkschaft nennt es „Mobbing“) zerstörte Unternehmensbindung.

Ein Berliner Funkgerätehersteller erzählt: „Ich sehe das sogar gern, wenn meine Angestellten Geräte oder Werkzeug mit nach Hause nehmen, das ist eine ebenso effektive wie kostengünstige Weiterbildung nach Feierabend. Nur einmal habe ich einen Mitarbeiter angezeigt: der hatte die Sachen weiterverkauft.“

Das Ostberliner Boulevardblatt Kurier läßt die Hermes- Umfrage durch einen Arbeitsrechtler kommentieren: „Klauen berührt immer das Vertrauensverhältnis“ – und „rechtfertigt generell eine fristlose Kündigung“. Dabei müßte man gerade im Kurier wissen, daß – Telefonüberwachung durch den Gruner-&-Jahr-Konzern hin oder her – nur ein Journalist, der Privates und Berufliches vermischt, gute Arbeit leisten kann.

Bei der taz stehen dafür Telefon, Kopierer, Faxgerät, Frankiermaschine etc. zur Verfügung, sogar Disketten, Papier und Ordner werden einem gerne nach Hause mitgegeben. Dieser „Großzügigkeit“, die auch ein vor einiger Zeit eingestellter „Sparkommissar“ nicht beschnitt, liegt – wie übrigens genauso in japanischen Betrieben – der Gedanke zugrunde, daß dadurch die Identifikation mit dem Betrieb in besonderem Maße gestärkt wird. Zwei Berliner Getränkeauslieferungsfirmen machten die Probe aufs Exempel: Die eine kontrollierte ihre Mitarbeiter, die andere nicht. Bei der letzteren war nicht nur das Betriebsklima weitaus besser, es rechnete sich auch, denn die Kontrolle ist teuer, und außerdem fühlten sich die Mitarbeiter dadurch herausgefordert, sie ständig zu überlisten: „Alle Tage Sabotage!“

Der Registrierkassen-Hersteller NCR zum Beispiel muß jedes Jahr ein neues Kassenmodell auf den Markt bringen, weil Kassierer und Kellner bis dahin das System „geknackt“ haben. Aus einem ähnlichen Grund sind Supermarktkonzerne allen Betriebsführungstheorien zum Trotz an einer hohen Fluktuationsrate in ihren Filialen interessiert: Sobald sich jemand „eingearbeitet“ hat, fängt er auch schon an zu klauen – übrigens sind Frauen dabei weitaus mutiger als Männer.

Bei Karstadt werden die Mitarbeiter deswegen am Ausgang nach dem Zufallsprinzip kontrolliert. Auch bei Opel in Eisenach wurde dies neulich – von General Motors – eingeführt. Weil zur gleichen Zeit einige Mitarbeiter von Opel Gleiwitz dort hospitierten, meinten die Eisenacher, dies geschähe nun nur wegen der Polen. Trotz des ewigen Gefasels von Sozialpartnerschaft zeigen Kontrollen den Mitarbeitern messerscharf, auf welcher Seite sie stehen.

Die schärfsten Kontrollen gibt es in den Seehäfen beim Löschen (durch die internationale Firma Controllco), dennoch ist es ihr noch nie gelungen, einen Diebstahl zu verhindern, wenn die Hafenarbeiter an einer Ladung interessiert waren, und ihr Interesse daran ist wegen der Kontrollen – „Ehrensache“.

Bei Opel in Rüsselsheim gab es einmal eine gut verankerte Sponti-Betriebsgruppe. Einmal ließ sie ein Flugblatt verteilen, in dem es hieß: „Einen Schraubenzieher mitgehen lassen macht 8,60 Mark, eine Rohrzange macht 28,40 Mark ... usw. Das reicht aber noch nicht: Deswegen 1 Mark mehr für alle pro Stunde!“ Fast schmissen die Arbeiter die Betriebsgruppe deswegen raus, weil zwar alle klauen und das auch jeder weiß, aber keiner darüber spricht. Ähnlich verhielt es sich bereits mit Dostojewskis Bericht über seinen sibirischen Gefängnisaufenthalt, „Aufzeichnungen aus einem Kellerloch“: Die Kriminellen nahmen es ihm lange Zeit übel, daß er darin einige ihrer Überlebenstricks „verriet“ – und wollten deswegen aus „Dostojewski“ nie was vorgelesen bekommen.

Für 250.000 Mark Waren stehlen Berliner Verkäufer angeblich täglich – und was ist mit den steigenden Mieten, Steuern, etc. und dem miesen letzten HBV-Tarifabschluß? „Wir sind noch lange nicht quitt!“ so sagte es neulich meine Lieblingskassiererin im Kreuzberger PLUS-Markt – und vergaß prompt, einen Kasten Bier unten in meinem Einkaufswagen abzurechnen. Auch das gibt es: uneigennützigen Diebstahl! Eine besonders edle – weil gemeinschaftsstiftende – Form der Vergesellschaftung. Helmut Höge