Der Traum von einer Schweiz im Kaukasus

Dagestan war Moskau gegenüber stets loyal. Wachsende soziale Probleme könnten das ändern  ■ Aus Machatschkala Klaus-Helge Donath

Unser Dagestan wird eines Tages die Schweiz des Kaukasus sein“, lacht Madomedsalich Gusajew zuversichtlich. Doch während sein Blick über die buntgetupften Landkarten an der Wand seines Büros schweift, kehrt er unversehens in die Wirklichkeit zurück: „Vorausgesetzt, es gibt keinen Krieg“. Durch den Ministerialbau, der Gusajews Büro beherbergt, fegt ein eiskalter Wind. Gusajew ist Nationalitätenminister Dagestans, der südlichsten Republik der russischen Föderation. Ein Bombenanschlag vor einigen Tagen zerstörte die verglaste Rückfront des Gebäudes. Der Sprengsatz war hinter dem Rücken Lenins plaziert, dessen Statue den Regierungssitz in Machatschkala bis heute überschaut.

Vor nicht langer Zeit galt Dagestan noch als ein besonders beschaulicher Flecken, dessen Bewohner das Tohuwabohu des Umbruchs in Moskau staunend, aber nur als Zaungäste beobachteten. Hier unten bei den genügsamen und Entbehrung gewohnten Gebirglern herrschte schlicht ein anderer Zeittakt. Bis der mörderische Krieg in Tschetschenien die Nachbarrepublik aus dem Schlaf riß. Hunderttausende flüchtende Tschetschenen suchten jenseits der Grenze eine Heimstatt, aus der anderen Richtung überrollte die russische Militärmaschinerie das Land, um den bedrängten Truppen den Nachschub zu sichern.

Die Logistik des Krieges hat sich kaum reparabel in die Physis hineingefressen. Gusajew ist ein erfahrener Politiker. Seit Jahren bekleidet er den Posten des Nationalitätenministers. Nie war es eine leichte Aufgabe. Auf einer Fläche, kleiner als die Schweiz, leben mehr als dreißig Völker, zusammen 2,1 Millionen Einwohner. Die größte ethnische Gruppe stellen die Awaren, gefolgt von Darginern, Kumyken, Lesginen, Tschetschenen, Laken und Russen. „Ich bin Sprößling eines kleinen Berghirtenvolkes, der Agulier“, erklärt Gusajew, „von uns gibt es noch zwölftausend Seelen. Zumindest als Erzähler hat er Spaß am Völker- und Sprachengewirr seiner Heimat, deren Geheimnisse bisher kein Eroberer restlos lüften konnte.

Nachdem die Bolschewiken den Kaukasus endgültig unterworfen hatten, übernahm das Russische die Rolle der Lingua franca. Vorher verständigten sich die Eliten in Arabisch, das Fußvolk unterhielt sich in einer geläufigeren Turksprache. Mit dem Arabischen verfestigten sich früh Traditionen des Islam. Der Chef der sozialistischen Partei Dagestans, Buinakski, unternahm bereits in den zwanziger Jahren einen Versuch, die neugeschaffene Sowjetrepublik nach dem Schweizer Kantonsmodell zu organisieren. Vergebens.

Gusajews Traum, sein Land in eine kaukasische Eidgenossenschaft zu verwandeln, hat somit schon Vorläufer. Überhaupt Kontinuität wird großgeschrieben. Der Nationalitätenminister ist nicht nur Abkömmling einer kleinen Völkerschaft, gleichzeitig vertritt er die Nomenklatura, die Dagestan seit der kommunistischen Herrschaft straff im Griff hielt.

Wer könnte hinter dem jüngsten Anschlag stecken? Terrorakte und Attentate beherrschen den Alltag. Jugendgangs, radikale Nationalisten, Mafia- und Clanstreitigkeiten oder fundamentalistische Muslime, sie alle könnten ihre Finger im Spiel haben. Aufgedeckt wird der Vorfall wohl nie.

Ethnische Konflikte und Streitereien, besonders um den knapp bemessenen fruchtbaren Boden in der Ebene und am Küstenstreifen des Kaspischen Meeres, versetzten die Republik auch früher schon mal in Unruhe. Doch kam es nie zu Ausschreitungen und blutigen Exzessen wie in den umliegenden Regionen des Kaukasus. Sezessionsbestrebungen der Nachbarn fielen in der Hauptstadt Machatschkala auf unfruchtbaren Boden.

Als die UdSSR auseinanderbrach, ließ sich Dagestan nicht in den Sog hineinziehen. 1993 bekräftigten die „Dagestani“ in einem Referendum ausdrücklich ihren Willen, fester Bestandteil der Föderation zu bleiben. Man hielt an der jahrzehntelang erprobten pragmatischen Zusammenarbeit zwischen den größten Volksgruppen fest. Daneben galt Loyalität gegenüber Moskau als selbstverständlich.

Der ehemalige Aggressor, der im 19. Jahrhundert im Kaukasuskrieg die Völker unter seine Knute gezwungen hatte, erweist sich hundert Jahre später als Garant der inneren Stabilität. Doch ist sich das zweitausend Kilometer entfernte Moskau dieser Rolle überhaupt bewußt?

Der Feldzug gegen das abtrünnige Tschetschenien vor drei Jahren hat die Grundfesten Dagestans nachhaltig erschüttert. Jäh sah sich die Republik vom Rest des Landes abgeschnitten. „Allein bei uns haben wir 118.000 Flüchtlinge aus dem zerbombten Grosny aufgenommen“, meint Abduragin Beksultanow, Chef der Verwaltung im Grenzbezirk Chassawjurt, „genausoviel wie die angestammte Bevölkerung.“ Chassawjurt hat unter den Auswirkungen am schwersten zu leiden. Die wenigen Industriebetriebe in der Region haben ihre Tore längst geschlossen. Die Wirtschaft des Landes liegt brach, seitdem die Rüstungsindustrie aus Moskau weder Aufträge noch Geld erhält, um die Produktion umzurüsten.

Vier Fünftel der Jugendlichen sitzen auf der Straße. Ein Sprengsatz mit Zeitzünder. Spannung und Unruhe hängen in der Luft... Gelegentlich werden Menschen entführt, verschwinden für Monate, um Lösegeld zu erpressen oder Kriminelle aus dem Gefängnis freizupressen. In den Moskauer Medien stehen die Schuldigen gewöhnlich vorab fest: die Tschetschenen. Verwaltungschef Beksultanow streitet die wachsenden Spannungen zwischen den Volksgruppen auch in seinem Gebiet nicht ab, aber er bemüht sich, ein differenziertes Bild zu zeichnen. Schließlich müßten alle auf dem gleichen Boden weiter leben. Sehr oft würden die Verbrechen von national gemischten Gruppen begangen, die sich nach der Tat auf tschetschenisches Gebiet flüchteten.

Und noch einem Gerücht aus dem russischen Zentrum tritt er geradezu empört entgegen: Die politische Führung in Grosny habe es nicht darauf abgesehen, sich Chassawjurt, die westliche Provinz, unter den Nagel zu reißen. Unabhängig davon, ob Tschetschenien eines Tages doch die Souveränität erhält: für Beksultanow ändert sich nichts. „Wir sind seit Jahrhunderten Nachbarn, und so wird es auch bleiben.“

Die Politik in Moskau folgt unterdessen dem alten Grundsatz des „Teile und herrsche“. Noch erweisen sich die Völker als immun gegen den Spaltpilz. Allzu lebendig sind die Erinnerungen. Im Januar 96 nahm die Einheit des tschetschenischen Warlords Salman Radujew das dagestanische Dorf Perwomaiskoje als Geisel, um den russischen Gegner zu Zugeständnissen zu zwingen und Dagestan in die Feindseligkeiten hineinzuziehen. Selbstverständlich lagen deren Sympathien sogleich bei den Russen. Bis die Spezialeinheiten die Ortschaft schleiften. Radujew entkam, zurück blieben unzählige Leichen von Zivilisten.

Der gute Wille der Dagestanis wird immer wieder auf die Probe gestellt. Deshalb wollen sie die Sicherung der Grenze auch in Eigenregie übernehmen. In Gerzel, am wichtigsten Grenzpunkt auf der Fernverkehrsstraße Baku–Grosny–Rostow am Don haben sie inzwischen Stellung bezogen. Vor dem Krieg verlief hier eine Verwaltungsgrenze, heute hocken Polizisten hinter Stacheldraht, Sandsäcken und aufgeschichteten Betonblöcken. Obwohl gutbezahlte Arbeit schwer zu finden ist, reißen sich nur wenige um diesen Job.

Faktisch entspricht die Demarkationslinie mitten in Rußland längst einer Staatsgrenze. „Nachts schließen wir den Posten. Nur in dringenden Familienangelegenheiten lassen wir jemanden durch“, erklärt der verantwortliche Major, dem es selbst im Kreise von fünfzig schwerbewaffneten Männern mulmig zu sein scheint. Unterdessen überqueren Händler in beide Richtungen die Grenze.

Auch die Tschetschenen verzichten nicht auf eine Kontrolle. Schließlich zählt sie zu den wichtigsten Attributen eines vollwertigen Staates.

Mogamed Tolbojew, der Chef des Sicherheitsrates in Machatschkala, gibt sich weltoffen. Der Flieger der Luftwaffe wurde seinerzeit mit dem Orden „Held der Sowjetunion“ ausgezeichnet. Eine schillernde Figur, die sich gerade die Organisation eines Schönheitswettbewerbes gönnt. „Man muß doch mal abschalten.“ Das Telefon klingelt. Tolbojew fällt vom Russischen in eine lokale Sprache. Danach erzählt er von seinen Spitzeln unter den Wahhabiten, islamischen Fundamentalisten, die aus Saudi-Arabien finanziert werden und von Ausbildungslagern in den tschetschenischen Bergen über die grüne Grenze gelangen. Fähnchen markieren auf einer Karte ihre derzeitigen Depots. Zwischen ihnen und Anhängern des Tarikatismus, die den Islam mit lokalen Bräuchen der Bergvölker seit Menschengedenken verknüpfen, haben Zusammenstöße in jüngster Vergangenheit erheblich zugenommen. „Die Bedrohung kommt dennoch von innen“, meint Tolbojew kategorisch.

Religiöse Extremisten finden Zulauf unter der verarmten Jugend. Eine Aufklärungskampagne in den Dörfern soll dem entgegensteuern. „Vor fünf Jahren hätte man damit beginnen müssen. Wir hatten nichts zu sagen, Moskau hat entschieden“, sagt er. Eine Konzeption für den unruhigen Nordkaukasus sei im Kreml nie entwickelt worden. Und heute? Angeblich höre man nun auf die warnenden Stimmen aus Machatschkala...

Drei Tage nach dem Gespräch entsendet Moskau eine Fallschirmspringereinheit in die Grenzregion. Die Aufgabe wollte Tolbojew eigentlich auf seine Weise lösen, um Konflikten vorzubeugen. Wo russische Soldaten und Grenztruppen Dienst verrichten, entstehen regelmäßig neue Brandherde. Disziplinlose und korrupte Uniformierte drangsalieren die lokale Bevölkerung, die sie eigentlich beschützen sollen.

In Magaramkent an der Grenze zu Aserbaidschan berichten ortsansässige Polizisten aufgewühlt, angetrunkene Soldaten hätten vor wenigen Tagen einen achtjährigen Jungen erschossen. Die Täter retteten sich ungestraft in ihre Einheit. „Wir sind Statisten, sie sind das Gesetz“, schäumt ein Polizist. Die russische Grenzwache, einen Steinwurf entfernt, schüchtert ihn nicht mehr ein. Auch hier sind es die Militärs, die selbst die Lunte legen.

Tolbojew weiß das natürlich. Doch die Angst vor dem Zerfall des Vielvölkerstaates und des eigenen Machtverlustes zwingen ihn, am Zentrum festzuhalten. Der Schwelbrand im Kaukasus frißt sich unterdessen langsam weiter. Gusajew sah die Schrift schon an der Wand... Beim Hinausgehen fällt der Blick auf ein Porträt des Imam Schamil. Schamil führte den Freiheitskampf der Kaukasier unter dem Banner des Islam im letzten Jahrhundert gegen die russischen Invasoren... Eine historische Reminiszenz? Das mag vielleicht sein. Doch falls der Hausherr im Norden keine andere Wahl mehr läßt...