Ein Lied von Kniefall und Verwesung

■ Die Kunst, einen Dichter zu Tode zu feiern: Hundert Jahre Brecht feiert Hamburg-Premiere im Abaton

Wie wunderbar verräterisch kann doch die Sprache sein! In der Pressemitteilung zu dem Hommage-Film Hundert Jahre Brecht von Ottokar Runze steht, „wie sehr dieser Dichter noch auch unser Zeitgenosse ist und wie aktuell das ist, was er erzählt“. Es lohnt, sich dieses „immer-noch-auch-unser“einmal auf der Zunge zergehen zu lassen. Was man da zu schmecken kriegt, ist eine ordentliche Portion Verlogenheit. Von „Uns Bertold“und seiner überwältigenden Heutigkeit wollen sie uns seit Wochen alle überzeugen: Verlage, Fernseh- und Rundfunkanstalten, Zeitungen, nicht zu vergessen die Theater und jetzt das Kino. Nur: Trotz Beharrlichkeit und Penetranz ist das bis dato niemandem gelungen.

Regisseur Ottokar Runze hat für seinen Film leider einen schlechten Zeitpunkt gewählt. In der endlos langen Schlange der Jubiläumsgratulanten ist er nur einer von vielen. Dabei hat er mit Udo Samel, Jürgen Hentsch, Christian Redl, Meret Becker und Hanne Hiob ein beachtliches Schauspieler-Ensemble zusammengestellt.

Herzstück der Spielfilm-Collage sind Szenen aus dem Theaterstück Furcht und Elend des Dritten Reiches sowie Ausschnitte aus den Prosaskizzen Flüchtlingsgespräche. Die Flüchtlinge Samel und Hentsch räsonnieren mal in einem Café und mal unter der amerikanischen Freiheitsstatue über die Bedeutung des Menschen für seinen Paß, über den Vorzug des Sozialismus vor dem Kapitalismus oder über den Dialektiker Hegel als Humoristen. Christian Redl als Mephisto-Baal singt mit starrem Gesichtsausdruck Lieder von der Fleischeslust und Verwesung. Meret Becker als Dienstmagd und Freundin eines SA-Manns muß erst erkennen, mit welchen menschenverachtenden Methoden die SA ihre Opfer in die Enge treibt und stimmt dann sehnsuchtsvoll das Lied von der Seeräuber-Jenny an. Zwischendurch trägt Hanne Hiob, die älteste Tochter Brechts, Anekdoten von den seltenen Begegnungen mit ihrem Vater vor, z. B. wie er sie einmal bei einem Besuch in Dänemark darum gebeten hat, Gedichte von ihm auswendig zu lernen, um sie unbemerkt über die Grenze schmuggeln zu können.

Hanne Hiob braucht keine schauspielerischen Mittel einzusetzen und erzielt doch die nachhaltigste Wirkung. Die 50 Jahre, die zwischen der Gegenwart und ihren Kindheitserinnerungen liegen, stellen kein Hindernis, sondern eine Brücke dar, durch die das Vergangene lebendig wird. Andere Szenen hingegen sind für den Geschichtsunterricht inszeniert: der Richter in Entscheidungsnot, für den nicht mehr Wissen und Gewissen, sondern die undurchschaubaren Vorgaben der Partei zum Maßstab der Rechtsprechung geworden sind. Oder: der Nachbar, der mit einer scheinbar harmlosen Beschwerde bei der Gestapo seinen Nachbarn ins KZ bringt.

Was bei Runze wie bei der gesamten Brecht-Retrospektive fehlt, ist ein eigenmächtiger Umgang mit Brecht. Eine Hommage ist immer ein ehrenwertes Unterfangen, aber wer sieht schon gerne zu, wenn einer einem anderen die Füße küßt. Brecht selbst war nie ein wortgetreuer Exeget und verfuhr ebenso rücksichtslos wie kreativ mit den Materialien anderer Autoren. Um zu beweisen, daß seine Stücke „immer noch auch unser“sind, bedarf es weitaus mehr, als im Abspann Fotografien vom geschändeten Brecht-Grab oder von ausgebrannten, mit Hakenkreuzen beschmierten Kirchen zu präsentieren. Joachim Dicks

23. Februar, Premiere in Anwesenheit des Regisseurs und der Darsteller, 20.30 Uhr, Abaton