Am Abgrund des Lebens

■ Gehetzt und ratlos, scheu und abwesend: Amos Kollek erzählt mit „Sue“ die traurige und logische Geschichte eines sozialen Abstiegs

Vorgänge, wie sie sich überall auf der Welt tagtäglich abspielen: Eine Frau sitzt bei ihrem Vermieter und bittet um Aufschub ihrer Mietzahlungen; ein Vorstellungsgespräch, bei dem die Frau monoton und ohne Hoffnung auf Einstellung ihre berufliche Vita mitsamt ihren persönlichen Vorzügen herunterrattert. Am Ende sitzt sie erschöpft auf einer Parkbank, langsam sinkt ihr Kopf zur Seite, und sie stirbt: Sie hat es nicht geschafft, dem Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit zu entrinnen.

Die traurige Geschichte, die Amos Kolleks Film „Sue“ erzählt, scheint von Anfang bis Ende unvermeidlich zu sein, der Abstieg von Sue entspricht einer gewissen Logik. Denn auch wenn es Hoffnungsschimmer gibt, Ereignisse, die den Weg nach unten aufhalten könnten, Menschen, die helfen wollen: Es sind nicht nur die schlechten äußeren Rahmenbedingungen, die jemand in einer Stadt wie New York auf den Hund kommen lassen – auch Einsamkeit, Stolz und den eigenen Charakter nicht unbeeinflußt lassende persönliche Enttäuschungen tragen ihren nicht unwesentlichen Teil dazu bei.

Beeindruckend ist die fesselnd intensive Darstellung der Sue durch Anna Thomson, die in Clint Eastwoods „Unforgiven“ schon einmal die Rolle einer Frau am Abgrund des Lebens gespielt hat: Irgendwie gehetzt und rastlos wirkt diese Sue, dann wieder scheu und abwesend; sie löst beim Betrachter Gefühle von Mitleid und Fürsorge aus. Aber auch ihr Humor, ihre Intelligenz, ihr Charme nehmen für sie ein. Um so tragischer, daß selbst diese Eigenschaften ihre Perspektiven nicht verbessern, ihr Leben nicht zu retten vermögen.

Doch des öfteren fragt man sich auch, ob die Art und Weise, in der Sue Kontakt aufnimmt, nicht auch bei uns selbst Mißtrauen und Ablehnung erzeugen würde: genau wie bei der Frau, die sofort mit ihrem Kind das Weite sucht, als Sue mit ihr ein Gespräch über die Schönheit des Kindes beginnen möchte; genau wie bei dem Coffeeshop-Besitzer, der nach Ausflüchten sucht, als sie ihn unvermittelt fragt, ob er mit ihr nicht einen trinken gehen wolle.

Leider funktioniert auch die menschliche Kommunikation nach ziemlich festgelegten Regeln, und „am liebsten über Sex zu kommunizieren“, wie Sue es einmal ausdrückt, ist da nicht unbedingt die beste Lösung: Je wahlloser und spontaner Sue ihre Kontakte knüpft, desto stärker verirrt sie sich in Einsamkeit und Verzweiflung. Und sosehr sich die Gespräche und Szenen in Bars, Coffeshops und Waschsalons, auf den New Yorker Straßen und in Sues Wohnung wiederholen, so zwangsläufig der Ablauf des Geschehens ist: Sues Schicksal hält bis zum bitteren Ende in Bann. Gerrit Bartels

Panorama: heute, 16.30 Uhr, Filmpalast; 20.2., 21 Uhr, Filmpalast