Asche in der Tasche

■ „Ick mach' stur nur auf Fijur“: Sexy Kulicke versus die blonde Gisela – die Neuköllner Oper hat einen Klassiker ausgegraben und aktualisiert, das Musical „Messeschlager Gisela“ von 1960

Im VEB Berliner Schick steht nicht alles zum sozialistischen besten. Die Näherinnen sticheln tagelang Knopflöcher zu, denn bei der Knopfproduktion gibt es einen Planrückstand. Der Chef ist unfähig, seine Sekretärin giert nach westlichem Amüsement. Doch da fällt ein Lichtstrahl in den grauen Produktionsalltag. Sie ist blond, sie heißt Gisela, und sie will nur eines: „Beim Aufbau des Sozialismus tatkräftig mitwirken!“

Bei der Uraufführung im Metropol Theater 1960 war „Messeschlager Gisela“ von Gerd Natschinski ein rauschender Erfolg. 74mal war die Mär von der idealistischen kleinen Näherin, die ihr Kollektiv zu Höhenflügen mitreißt, ausverkauft. Doch kurz nach dem Mauerbau wurde das scheinbar so staatstragende Stück sang- und klanglos abgesetzt. Die Zensur hatte offenbar Risse im Fundament entdeckt. War Kritik an einem VEB-Chef statthaft? Konnten seine Paris-Reisen im eingesperrten Volk nicht gefährliche Sehnsüchte wecken? Und warum war die brave Gisela soviel langweiliger als die faule Sekretärin Kulicke mit ihren West-Allüren? Immerhin hatte ein Satiriker das Libretto geschrieben, der Distel- und Eulenspiegel-Autor Jo Schulz.

Die Neuköllner Oper hat „Messeschlager Gisela“ jetzt aus der Versenkung geholt, komplett mit Sprayfrisuren und Glockenröcken, und angereichert mit einer Meta- Ebene (Textfassung und Regie: Peter Lund). Eine gealterte Gisela besucht nach der Wende ihren Betrieb, der kurz vor der Schließung steht. Die Handlung wird als Rückblende erzählt, Gisela gibt sarkastische Kommentare dazu ab. Diese Doppelung funktioniert prächtig, die freiwillige und die unfreiwillige Komik der Operette potenzieren sich in ungeahnte Höhen. Die sozialistische Aufbaustory ist von selbst zur Groteske geworden, die Liebes- und Intrigenkomödie dagegen unverwüstlich. Und so sind die komischen Charaktere immer noch zum Lachen und die ernsten noch viel mehr. Da gibt es die arbeitsame Ex-Trümmerfrau (Silvia Bitschkowski), den eifrigen Journalisten Fred, der sich als Transportarbeiter in den Betrieb einschleicht (Hartmut Kühn), und den Gütekontrolleur Stubnick (Urs-Werner Jaeggi), einen ewigen Pechvogel, den auch seine vielen Parteifunktionen nicht vor der Verachtung der angebeteten Kulicke bewahren können. Deren spotthaftem Wesen ist nicht einmal „Karlchen Marx“ heilig, doch solche Frechheiten sind wohl nachträglich eingefügt. Aus dem originalen Textbuch stammt dagegen die Heuchelarie des Chefs (Frank Schwemmer), die das sozialistische Ideal der Selbstkritik verspottet: „Der kluge Mann hat etwas Asche zu diesem Zweck stets in der Tasche...“ Lieber jedoch lobt er sich so laut und fremdwortfreudig wie der Bürgermeister in „Zar und Zimmermann“.

Mit geschickten Arrangements ersetzt die Neuköllner Oper das große Orchester durch ein fünfköpfiges Ensemble und A-cappella-Chöre. Franziska Forster als sexy Kulicke röhrt amerikanisch- zersetzenden Rock 'n' Roll: „Ick mach' stur nur auf Fijur!“ Die aufrechten Werktätigen trällern Walzer, Foxtrott und Cha-cha-cha. Herrliche Kitschbomben sind dabei wie das Liebesduett „Rote Rosen“, das die Absetzung vom Spielplan damals mühelos überlebte.

Übrigens kriegen sich Fred und Gisela (Antje Rietz) am Ende nicht, der zuckersüße Operettenschluß wurde gegen einen realistischen ausgetauscht. Auch wenn Giselas „Modell für jede Frau“ auf der Leipziger Messe über die frankophilen Extravaganzen des Chefs triumphiert – er bleibt am Ruder, sie wird strafversetzt.

Am Abend nach der Premiere fand sich überraschend Margot Dörr ein, die Gisela der Uraufführung. Von der Neufassung war die 72jährige begeistert: „Wunderbar! Wir haben das damals ja ganz treudeutsch-sozialistisch gespielt.“ Die Aktualisierung bringt zwar manche Längen mit sich. Trotzdem: „Messeschlager Gisela“ kann jeder Gütekontrolle standhalten. Miriam Hoffmeyer

19.–21. und 26.–28.2., jeweils 20 Uhr, Neuköllner Oper, Karl- Marx-Str. 131–133