Sie versteht die Kunst

■ Nach der Eiskunstlauf-Kurzkür führt wie erwartet die geschmeidige Michelle Kwan

Berlin (taz) – Michelle Kwan, Tochter chinesischer US-Einwanderer, verlor vor einem Jahr den WM-Titel an ihre US-Kollegin Tara Lipinski. Das schmerzte sie. Eigentlich hatte sie schon vor zwei Jahren gedacht, in Nagano ein ihr natürlich zustehendes Gold zu erlaufen – schließlich war sie schon 1994 Mitglied des US-Olympiateams, war dann aber doch nur Ersatzfrau, weil die barrende Tonya Harding doch die Starterlaubnis erhielt. Und dann war Lipinski voriges Jahr schlicht besser. Anders als Kwan rotierte und pirouettierte der 15jährige Sproß polnischer Einwanderer sicherer – noch von keinen pubertären Wachstumsschwierigkeiten behelligt.

Kwan kalkulierte von Herzen, daß auch ihre Rivalin irgendwann einmal der Barbiestatur entwachsen würde. Und hoffte, daß dies zur Olympiasaison passieren würde. So sagte sie öffentlich mit Blick auf Lipinski: „Ich weiß nicht, wie lange Tara mitlaufen wird, aber ich werde von nun an dasein. Jederzeit.“ Gestern hat sie gezeigt, was sie mit dieser Formulierung meinte.

Schon bei den US-Titelkämpfen glänzte Kwan mit einer Kür, die in der Note für den künstlerischen Ausdruck mit einer Fülle von Höchstziffern bedacht wurde. Sie war so gut, so elegant und eiskunstläuferisch perfekt, daß die Lipinski die Contenance verlor, einen Sprung nicht stand, überhaupt nicht mehr so selbstverständlich alles richtig machte – und deshalb nur mit Mühe noch einen Startplatz für Nagano sichern konnte.

Vor der morgigen Kür bewies Kwan, daß die anderen Sport treiben, sie hingegen sich auf die Kunst des Eislaufens versteht – bei der die Sprünge wie zufällig eingestreut daherkommen. Die Lipinski war ja im Grunde nicht schlechter, liegt trotzdem – nur, würde man in den USA sagen – auf dem 2. Rang, vor Maria Butyrskaja aus Rußland. Kwan wirkte aber geschmeidiger, ihr Programm harmonischer, die Kufentechnik weicher – was acht der neun Preisrichter mit der Platzziffer 1 belohnten. Jan Feddersen