Kettenrauchen für Elise

■ „Xiao Wu“, eine Independent-Produktion aus der Volksrepublik China, ist ein Abgesang auf das alte System – ohne Hoffnung auf das neue

Im ersten Moment könnte man meinen, Jia Zhang Ke, der Regie führte und das Buch schrieb für „Xiao Wu“, wäre gern der Tarantino, der Tarantino mit „Jackie Brown“ selbst nicht mehr sein will. Da steigt der Protagonist Xiao Wu, seines Zeichens erfolgreicher Taschendieb, in den Bus, die Kippe wackelt im Mundwinkel. Auf die Frage des Schaffners, ob er denn nicht einen Fahrschein lösen möchte, schickt das eher schmächtige Männchen einen vernichtenden Blick und nuschelt: „Ich bin Polizist.“ Alle Anwesenden wissen, daß das eine Lüge ist, aber der Schaffner verzieht sich, und Xiao Wu grinst breit. Da wirkt er ganz wie Tim Roth in „Reservoir Dogs“, und das trotz eines Anzugs wie aus der Kleidersammlung und einem Heiner-Müller-Kassengestell auf der Nase.

In den folgenden 108 Minuten scheitert die Freundschaft, scheitert die Liebe als Ersatzentwurf für die Freundschaft und scheitert schließlich auch das Verbrechen als Lebenskonzept, und zwar ausdrücklich an der gescheiterten Liebe. Etwas viel Bedeutung für einen solch kleinen, billigen Film, aber das geht schon in Ordnung. Denn sicher nicht zufällig kontrastiert die zwar lässige, aber doch vor allem verzweifelt hoffnungslose Coolness von Xiao Wu mit der chinesischen Wirklichkeit: Über Lautsprecher fordert das Amt für öffentliche Ordnung die Verbrecher auf, sich doch, bitte schön, freiwillig zu stellen.

Die Karaoke-Bar hat einzelne, rotlichtdurchflutete Separées, aber Prostitution ist in der Volksrepublik verboten. So ist die Blümchentapete in diesem Puff, der keiner sein darf, aber auch ohne Ficken wie einer funktioniert, der einzige Farbfleck inmitten der Trostlosigkeit der chinesischen Provinzstadt Fenyang, die ohne großes Zögern in die Filmgeschichte aufgenommen werden sollte als häßlichste Ansammlung von Häusern, die je auf Zelluloid gebannt wurde. Zwar ist jedes Haus auf dem Weg zur Ruine oder bereits dort angelangt, aber pittoresk möchte das ums Verrecken nicht werden.

Die Bilder dieser Stadt allein reichen völlig, um den Film zur Systemkritik werden zu lassen, auch wenn der Filmemacher im anschließenden Gespräch ausdrücklich versuchte das nicht zu sagen. Da war von dem „rasanten Umbruch“ die Rede, in dem die Gesellschaft steckt, und von der „Depression“, in der er seine Freunde vorgefunden habe, als er nach dem Abschluß der Filmhochschule in Bejing wieder zurück in die Heimatstadt kam. Also drehte er mit ihnen, allesamt Laiendarsteller, diesen Film. Das wenige Geld dafür – eine der wenigen unabhängigen Produktionen der Volksrepublik – kam von Sponsoren, meist lokalen Industriebetrieben.

Die Kamera wirkt häufig wie rein zufällig plaziert und ist von dem, was man gemeinhin als ästhetisch bezeichnet, weit entfernt. Der Rest ist wacklig aus der Hand gefilmt. Nichtsdestotrotz wohnt diesen Bildern eine gewisse Schönheit inne, die in der Direktheit begründet ist, mit der der Augenblick fast pur einfangen wird, so wie das manchen Dokumentarfilmen gelingt. In diesen grisselig-körnigen, wie hingewuscht wirkenden Bildern, denen man die 16 Millimeter deutlich ansieht, agieren die Menschen hölzern und unsicher wie im Leben. Nicht unbedingt wie im richtigen Leben, aber wie in einem Leben. Auch hier wirkt „Xiao Wu“ wie ein Dokfilm, bei dem die Beteiligten zwar die Kamera gewahr werden, aber so tun, als ob sie sie nicht bemerken würden. Und Filmmusik im herkömmlichen Sinne gibt es in „Xiao Wu“ ebenfalls nicht, nur Popsongs (darunter Michael Jacksons „Heal The World“), die rüde hineingeschnitten sind oder einfach durchlaufen, während die Handlung weiter dahinstakst. Ansonsten regiert das stete Klappern, Rauschen, Trommeln der Stadt und ihrer Autos und Maschinen.

„Xiao Wu“ ist ein Abgesang auf das alte China, kann sich allerdings auch kein bißchen erwärmen für das, was da so kommen könnte. Tatsächlich gibt es auch nicht viel: Der Traum, Schauspielerin zu werden, die Entscheidung, es als Bauer zu versuchen, beides scheitert schon im Ansatz. Trotzdem ist dieser Film, zumindest in seinem Rahmen, zutiefst romantisch.

Kettenrauchend treibt Xiao Wu durch die staubigen Straßen, durch gammelige Frisörstuben und triste Schlafsäle. Irgendwann bekommt er ein Feuerzeug in die Hand, das „Für Elise“ plärrt, wenn man es benutzt. Das ist ziemlich komisch. Ansonsten gibt es nichts zu lachen. Thomas Winkler

Forum: heute, 17 Uhr, Akademie; 21.2., 17 Uhr, Babylon