Zwischen allen Stilen

■ Er war zeitlebens auf Wanderschaft, er experimentierte, suchte und fand: Zur Retrospektive des in Litauen geborenen, 1970 in London gestorbenen Malers und Bildhauers Issai Kulvianski

Selten stellt sich das Lebenswerk eines Künstlers so disparat dar wie bei Issai Kulvianski (1892 bis 1970). Die Wandlungen des Malers und Bildhauers von strenger Neusachlichkeit zu aufgelockerter Impression, von konstruktiver Tektonik zu abstraktem Expressionismus erscheinen im Rückblick wie Brüche, die miteinander unvereinbar sind.

1892 als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie in Litauen geboren, lernte Kulvianski ab 1912 in Berlin bei Max Liebermann, Hermann Struck und Hugo Kaufmann, hielt sich eine Zeitlang in Paris auf, wo er Kontakt zu Marc Chagall und Chaim Soutine hatte. Nach Soldatendasein und Gefangenschaft im Ersten Weltkrieg beendete er seine Studien bei Leo von Koenig und Lovis Corinth. Im Berlin der 20er Jahre kam er als Maler und Mitglied der Novembergruppe zu Anerkennung. An diese Jahre erinnern seine von starken Hell-dunkel-Kontrasten geprägten, scharfkantigen und dabei doch auch einfühlsamen Porträts seiner Eltern, der Tochter Kiki und der Freundin Grete K.

Ab den 30er Jahren wird Kulvianskis Malweise aufgelockerter, skizzenhafter, was am immer wieder auftauchenden Motiv „Meine Eltern“ eindrucksvoll nachvollziehbar ist. Gleichzeitig entstehen „konstruktive Kompositionen“, lyrisch-abstrakte Bilder wie „Blau verdichtet“, die magisch-meditative „Rotation“ und die bedrohliche Gestik von „Steigend-Stürzend“. Neben düster-hieratischen Bildern wie „Der große Sitzende“ oder „Der Tod als Narr verkleidet“ finden sich freie, abstrakte Farbkompositionen.

Die NS-Diktatur zwang Kulvianski zur Flucht, und er verlor fast sein gesamtes bisheriges Werk. In Palästina baute er sich eine neue Existenz auf. Obgleich in Tel Aviv als Maler, Lehrer und Bühnenbildner erfolgreich, hat er sich nie wirklich eingelebt. Auswanderungspläne in die USA wurden aufgegeben. Mit seiner Frau lebte er schließlich ab 1952 abwechselnd im ländlichen Frankreich und in Nürnberg; zuletzt gingen sie nach Berlin. Ein unstetes Wanderleben, geprägt von Krankheit und Abgeschiedenheit.

Wenn das Werk von Issai Kulvianski heute bekannt und erforscht wird, so ist dies vor allem der vor zwei Jahren in Berlin verstorbenen Witwe des Künstlers zu verdanken sowie Eberhard Roters, dem Gründungsdirektor der Berlinischen Galerie. Dort wird der Nachlaß aufbewahrt. Da der Martin-Gropius-Bau derzeit saniert wird, übernahm das Willy- Brandt-Haus die Gastgeberrolle für diese Retrospektive. Michael Nungesser

Bis 28. Februar. Mo–Sa 10–20 Uhr, So 11–18 Uhr. Willy-Brandt- Haus, Stresemannstr. 28