Über die prekäre Synchronität von Zeit und Raum Von Joachim Frisch

Jeder halbwegs intelligente Mensch hat sich schon einmal an Einsteins Relativitätstheorie versucht, doch kein vernünftiger Mensch versteht sie wirklich, denn für Relativitätstheorie und Vernunft ist zuwenig Platz im menschlichen Hirnkasterl. Aus dem gleichen Grund, zerebralem Platzmangel nämlich, sind Schachgroßmeister, Mathematikgenies und Musikwunderkinder im richtigen Leben eher unterbelichtet.

Für uns relativitätstheoretisch unterbelichtete Vernunftmenschen hat Professor Eddington das faszinierende Prinzip der Beschleunigung und Drosselung der Zeit so erklärt: Rast ein Jet mit einem zigarrerauchenden Piloten mit 259.888 km/h an mir vorbei, während ich ebenfalls eine Zigarre von gleicher Größe und Qualität in gleichem Tempo rauche, so braucht der Pilot aus meiner Sicht für seine Zigarre doppelt so lange – wegen der Relativität der Beschleunigung zur relativen Langsamkeit des Lichts oder so ähnlich. Bis seine Zigarre niedergebrannt ist, ist er allerdings schon hinterm Mond. Aus der Sicht des Piloten rauche aber ich in Zeitlupe, denn in seiner Wahrnehmung rase ich samt Erde mit 259.000 km/h durch den Raum, von ihm weg. Kernaussage des Beispiels: Es gibt sie gar nicht, die kosmische Zeit, die für alle und jeden überall gleich ist, kurz: Zeit ist subjektiv. Wenn ich nur schnell genug bin, ist das Gleichzeitige ungleichzeitig, die Synchronität asynchron.

Dieser Gedanke beunruhigt mich von Zeit zu Zeit, etwa wenn ich mir vorstelle, meine subjektive Zeit und die eines Mitmenschen differiere um zwei Sekunden, und dieser Mitmensch ist ein Lkw-Fahrer. Manchmal bin ich erleichtert, wenn ich gerade bei Grün eine Fußgängerampel überquert habe und ein 40 Tonner genau über die Stelle donnert, an der ich noch zwei Sekunden vorher entlangging. Wäre Horsts – sein Name steht auf dem Schild in der Windschutzscheibe des Trucks – subjektive Zeit nur zwei Sekunden nachgegangen, hätte ich mich relativ zu ihm, also zur gleichen Zeit, nur etwa drei Meter weiter östlich im Raum bewegt, hätte sein Diesel meinen noch einigermaßen kompakten Leib in eine amorphe Ansammlung von Fleischfetzen und nicht mehr verwert- bzw. spendierbaren Organfragmenten verwandelt. Wären die Rettungsfahrzeuge aus Versehen weitergefahren, ohne am Unfallort anzuhalten, hätte sich in der subjektiven Wahrnehmung der Zuhörer an der Kreuzung die Frequenz des Sirenentons um eine kleine Terz gesenkt – ein weiteres interessantes Phänomen, in dem nicht nur Raum und Zeit, sondern auch die Dimension des Tons eine Rolle spielen, dazu vielleicht auch noch die Masse in Form der Schwerkraft.

Als ich neulich, in der Nähe der Hamburger Universität flanierend, über diese Zusammenhänge nachdachte und zu dem Schluß kam, daß nicht die Hirnkapazität selbst, sondern mein zerebraler Arbeitsspeicher für solch komplexe Gedanken zu klein ist, stieß ich mit einem älteren Herrn zusammen. Vielleicht waren unsere subjektiven Zeiten in diesem Moment nicht synchron, vielleicht war er sogar ein Physikprofessor mitten in einem Raum-Zeit-Experiment und ich sein Versuchskaninchen? An diesem Abend dauerte es sieben Biere, bis mein Arbeitsspeicher im Oberstübchen wieder einigermaßen aufgeräumt war.