„Dann war auf einmal alles aus“

Nach dem Sturz beim 1.000-Meter-Lauf bleibt der deutschen Eisschnelläuferin Franziska Schenk nur der Wettlauf mit einem Eisbären in Alaska als Saisonhöhepunkt  ■ Aus Nagano Matti Lieske

„Sehr unglücklich“, sagt Chris Witty aus den USA, „aber so was passiert eben, wenn man in einem großen Rennen zu viel versucht. Das ist Sport.“ Ähnlich lautet die Analyse von Helmut Krauss, dem Cheftrainer der deutschen Eisschnelläuferinnen, als Franziska Schenk nach etwa einem Drittel der 1.000-Meter-Strecke aus der Kurve geflogen und mit dem Rücken wuchtig gegen die Bande gekracht war. Erste Diagnose: Prellungen, leichte Gehirnerschütterung, ein Schnitt am Knöchel, den sie sich beim Sturz mit dem Schlittschuh zugefügt hatte, und Goldmedaille futsch – eine Blessur, die sich auf Dauer wohl als die schmerzlichste erweisen wird.

„Sie hatte eine extrem schnelle Anfangszeit“, erläutert Krauss den Tathergang, dann habe sie auf der Gerade noch beschleunigt und sei so rasant in die Kurve gegangen, daß sie einen Extraschritt machen mußte, um das Tempo zu drosseln. Dadurch verlor sie ihren Rhythmus und geriet in Rücklage. Klarer Fall von Übermotivation – das Hermann-Maier-Syndrom, übertragen auf den Eisschnellauf. „Das letzte, was ich hörte, war die Zwischenzeit, die schnellste, die ich je gelaufen bin, dann war auf einmal alles aus“, sagte die Läuferin, nachdem sie sich einigermaßen von dem Schreck erholt hatte.

Nagano sollte für Franziska Schenk die Krönung eines in sportlicher und geschäftlicher Hinsicht ungemein erfolgreichen Jahres werden. Nach dem unglücklichen vierten Platz über 500 Meter konnte es auf ihrer Spezialstrecke eigentlich nur besser werden, nachdem sie bei der Sprint-WM in Berlin vor drei Wochen das zweite 1.000-Meter- Rennen gewonnen und sich neben Chris Witty endgültig zur Goldfavoritin aufgeschwungen hatte. Am Ende war sie bloß noch eine Randnotiz bei einem Rennen, das überraschend die Niederländerin Marianne Timmer (23) vor Witty (22) und der kanadischen 500-Meter- Siegerin Catriona LeMay-Doan (27) gewann.

Bei der Pressekonferenz der Medaillengewinnerinnen ist von Franziska Schenk nur die Rede, weil der Sturz möglicherweise den Siegeslauf ihrer direkten Gegnerin Timmer beeinflußt haben könnte. „Franziska hatte eine sehr schnelle erste Phase“, erklärt die Niederländerin, ihren Sturz habe sie aber nicht gesehen, und er sei also keine Ablenkung gewesen. „Es ist sehr tragisch, wenn man bei Olympia stürzt“, fügt sie eilig hinzu, dann strahlt sie wieder.

Marianne Timmer hat nach dem Sieg über 1.500 Meter gestern schon ihre zweite Goldmedaille gewonnen, für Franziska Schenk hingegen bleibt der werbeträchtige Wettlauf mit dem Eisbären in Alaska nun doch der Höhepunkt der Saison – ein Fernsehspot für einen Versandhauskatalog. Vier lange Jahre müßte die 23jährige warten, bis in Salt Lake City ein neuer Angriff auf Olympiagold erfolgen kann – ob sie das will, ist unklar.

Das fröhliche Siegerinnentrio von Nagano könnte sie dort vermutlich wiedertreffen. Alle drei erklärten, bis dahin weitermachen zu wollen. Chris Witty möchte zwischendrin einen kleinen Abstecher nach Sydney unternehmen und dort in zwei Jahren eine Medaille im Bahnradfahren gewinnen. „Ich bin gerade auf der Suche nach einem Team“, bestätigt sie ihre Ambitionen, „und wenn es klappt, werde ich mich eine Saison lang nur auf das Radfahren konzentrieren.“ Die Aussichten stehen nicht schlecht, denn in Atlanta war sie schon Ersatzfahrerin des US- Teams, obwohl sie den Radsport nur nebenher betrieben hatte.

Mit ihrem Silber ist Witty nicht restlos zufrieden, muß aber zugeben, daß Timmer, mit der sie gut befreundet ist, „unglaublich“ gefahren sei. „Die ganze Saison hat sie Probleme gehabt“, wundert sich auch LeMay-Doan über die Niederländerin, „jetzt ist alles zusammengelaufen. Genau zum richtigen Zeitpunkt.“

Vor drei Wochen hatten alle Topsprinterinnen davon geredet, daß es nicht wichtig wäre, jetzt bei der WM, sondern zum Saisonhöhepunkt Olympia topfit zu sein. Keine schaffte es so perfekt wie Timmer, die in Berlin kaum auffiel und mit einem derartigen Durchbruch ebensowenig gerechnet hatte wie alle anderen. „Nirgends in meinem Kopf habe ich gedacht, daß ich eine Medaille gewinnen kann“, staunt sie, „und jetzt habe ich zwei. Ich muß sie ab und zu anfassen, damit ich es glaube.“

Allen drei Läuferinnen ist zugute gekommen, daß sie regelmäßig auf der extrem schnellen Bahn in Calgary trainieren. „Das hat mir sehr geholfen“, sagt Catriona LeMay Doan, Chris Witty sieht es ähnlich. Mit dem Klappschlittschuh mache das Eisschnellaufen aufgrund der höheren Geschwindigkeit zwar mehr Spaß, andererseits sei das hohe Tempo gefährlicher. „Ich hatte auch in beiden Kurven zu kämpfen“, erzählt Witty. Anders als Franziska Schenk, tat sie dies mit Erfolg.

Im deutschen Team hält sich das Mitleid mit der populären Kollegin in gewissen Grenzen. „Stürze liegen meist an einem selber“, sagt Sabine Völker, die Vierte wurde, und verweist auf eigene schmerzliche Erfahrungen: „Ich kann mit am besten nachfühlen, wie man sich nach einem solchen Sturz fühlt. Eine schwarze Stunde, eine ganz schwarze Stunde.“ Monique Garbrecht ist viel zu enttäuscht über ihren 10. Rang, als daß sie sich allzusehr der Schenkschen Misere widmen will. „Wenn man stürzt, steht am Ende keine schlechte Zeit“, gibt sie zu bedenken, überlegt ein wenig und ringt sich dann zu der Erkenntnis durch: „Beides tut weh.“ Portrait Seite 13