Aus dem Tagebuch eines Tunichtguts

Boa, ey: Phillip Boa ist jetzt Künstler und denkt über große Themen nach: Liebe, Haß, Alter, Vergänglichkeit, Tod, Kunst und Sex zum Beispiel. Dabei ist ihm seine neue Soloplatte „Lord Garbage“ gar nicht mal so übel geraten  ■ Von Benjamin von Stuckrad-Barre

Kürzlich, auf der Innenseite des neu gestalteten Zeit-Feuilletons, am unteren Blattrand: eine elegante Anzeige. Für eine Schallplatte, aus dem Genre Popmusik. Huch! Der größte Pop im ganzen neuen Blatt vielleicht.

Diese Anzeige jedenfalls sagt uns: Phillip Boa hat eine neue Platte aufgenommen, und die soll uns allen so einzigarty vorkommen, daß erstens die Anzeige zwar Quatsch ist, was ihre Breitenwirkung angeht, zweitens aber, das natürlich, doll aussieht (Kunst!) und drittens beweist, daß Phillip Boa, der Künstler, dann ja doch nicht umsonst auf der letzten documenta aufgetreten ist. Oder hatte er das Konzert abgesagt? War er nicht überhaupt längst komplett abgesagt, abgesägt, abgesungen? Es schien so. Doch nun: Rückkehr ohne Voodooclub, mit „Solo Debut“. Die Häutung, mitten raus aus der Asche und was die Leute sonst immer noch so über Bowie schreiben. Hat da jemand Bowie gesagt?

Phillip Boa ist jetzt Künstler. Das Cover seiner Platte „Lord Garbage“ ist schön schweflig braun, und die Fotos zeigen diesen Mann, wie er gern wäre – mit Buch, mit Brille, mit Stock, Halstuch, englischer Zeitung. Und, oh ja: Espressotasse. Oh Lord! Dabei immer nachdenklich. Worüber er wohl nachdenkt? Die großen Themen: Liebe, Haß und das Alter, die Vergänglichkeit, ja, gar der Tod? Auf jeden Fall hat er immer die Hand am Mund. Hat sich ja auch Scharping damals von einem Imageberater raten lassen. Das wirkt nachdenklich! Dann wieder steht er sinnierend in einem verwinkelten Gäßchen (Spanien?), fotografiert vom deutschen Anton Corbijn: Olaf Heine. Bei dem sehen sogar Fury in the Slaughterhouse gut aus.

Auf Boas gut gelungener ersten Single, einem modernen Gitarrenpopfeger, hört man ihn nicht nur prominente Namen droppen wie ein Rollkragen bei einer Vernissage (Tennessee Williams, D.H. Lawrence), sondern auch poltern: „I'm a giant hooligan poet with my finest moments yet to come.“

Boa, ein Fall fürs Feuilleton? Nö. Eher einmal mehr, wenn überhaupt: fürs Magazin. Doch auch das Zeit-Magazin wollte keinen Essay seiner Kolumnistin Sibylle Berg über Boa drucken. Dafür klebt auf „Sex 2“, dem neuen Buch von Sibylle Berg, ein Sticker – bald gibt es eine CD von Frau Berg, mit Musik von „Philipp Boa“, steht da drauf. Unter anderem. Und unter uns: Der heißt Phillip, nicht Philipp. Aber in dem Buch geht es ja auch nicht um Sex. Worum es Herrn Boa indessen geht, neben der Kunst: um Sex!

„Love me like an alien“ oder auch „Kiss my Soul“. Und dann, endgültig geradeaus: „Sleep with me“. Da ist es doch, das große Thema. Jetzt ist natürlich die Frage, ob dies schon die finest moments sind (Sex: der schönste = der letzte) oder ob die noch kommen. Auf jeden Fall ist „Lord Garbage“ eigentlich eine feine Platte. Wenig Kunstkacke, aber viel Song. Auf seinem letzten Album „She“ war Boa von neuen Sounds derart fehlgeleitet, daß die ganze Platte am Schluß klang wie ein Haufen B-Seiten von SNAP, neuinterpretiert von einem betrunkenen Metal-Bassisten, der jetzt aber auch mal will. Boa selbst wollte zu der Zeit nicht so richtig, hatte man den Eindruck. Jetzt will er wieder, und das wollen die Menschen offenbar auch: Die Platte ist gerade auf Platz 21 in die Charts eingestiegen. Beigelegt ist ein Aufsatz von Herrn Boa. Also, was heißt Aufsatz – ein „confused little essay“. Demnächst bei Suhrkamp! In einer Sprache, die dem englischen zumindest entlehnt ist, erfahren wir manches aus dem Tagebuch eines Tunichtguts: „I feel like an protagonist in a Film Noir: a portray of a dark & gloomy underworld (Life?) whose heroes are cynical, desillusioned“ und so traurig weiter. Life is live – nanananana. Labadapdapdap Life.

Dazu ein paar Ammenmärchen zur Entstehung von „Lord Garbage“. Stichwörter: Milano, Pianist Arthur Rubinstein playing Tchaikovsky, an Alec Guinness diary, an old bookshop in Dalkey, Dublin, und dann natürlich: God. „Lord Garbage“ ist eine Platte, die offenbar für seine Lordness Phillip Boa vor allem das ganz bestimmt nicht sein darf, was sie eigentlich bloß ist: ein gutes Popalbum. Ein ziemlich gutes sogar, mit schön rockenden Gitarren. Und sonst gar nichts. Aber was will seine Lordness? „Ausstellungen besuchen, Texte schreiben, vielleicht mal nach Indien fahren.“ Dann vielleicht einen Film drehen? Help!