Von Kopf bis Fuß auf Leipzig eingestellt

Die Leipziger wählen einen neuen Oberbürgermeister. Für Bündnis 90/Die Grünen kandidiert deren Bonner Geschäftsführer Werner Schulz. Chancen hat er so gut wie keine. Doch jetzt macht er Wahlkampf – und sonst gar nichts  ■ Von Dieter Rulff

„Da hock dich her, Schulz.“ Dieser Einladung des Bundeskanzlers wollte sich Werner Schulz nicht entziehen, zumal sie mit solch zwingender Freundlichkeit vorgetragen wurde. „Mußt ja sonst immer zwischen dem Fischer und dem Trittin sitzen.“ Helmut Kohls Mitgefühl erwärmte den Parlamentarischen Geschäftsführer der Bündnisgrünen, der es sich bereits in der hinteren Sitzreihe des Flugzeugs bequem machen wollte. Daß er nun den Platz neben dem Kanzler einnehmen sollte, war eine Ehre, die nicht jedem zuteil wird. Schon gar nicht Vertretern seiner Partei. Ihm galt sie als einem der ostdeutschen Bürgerrechtler.

Das Ziel der beiden Bonner an jenem 12. November letzten Jahres war Leipzig. Kohl wollte den umgebauten Hauptbahnhof einweihen.

Schulz will Oberbürgermeister werden.

Die Leipziger Bündnisgrünen hatten lange nach einem Kandidaten Ausschau gehalten, der mehr rausholen könnte als die 6,9 Prozent, mit denen sie 1994 aus der OB-Wahl hervorgingen. Der damalige Kandidat Jochen Läßig wollte wieder antreten, ihm wurde jedoch seine polarisierende Art zum Verhängnis. Im Dezember nominierten die Leipziger Grünen deshalb den Bonner Realpolitiker Schulz in der Hoffnung, daß dieser über die Stammwählerschaft hinaus Stimmen holen werde.

So trifft man Schulz also neuerdings an Orten wie der glasüberdachten Einkaufsstraße des „Paunsdorf-Centers“. Da steht er, wie meistens leicht gebeugt im lose sitzenden Jackett, nun mitten im „Young Fashion“-Bereich, von wo aus sich tagsüber die Käuferströme durch Glasportale auf einen unendlichen Parkplatz ergießen, auf dem man sich nur mit Hilfe von Tiersymbolen zurechtfinden kann. Wer zu Schulz will, muß beim Elefanten parken. Paunsdorf liegt im Leipziger Osten und ist eine jener Schlafstädte, die tagsüber tot und nachts still sind. Es hat kein Zentrum, dafür aber das Center. In die Shopping-Mall sind an diesem Februarabend zwanzigtausend Paunsdorfer geladen, um ihre Oberbürgermeisterkandidaten zu befragen. Zweihundert Neugierige nehmen schließlich in den Stuhlreihen zwischen „Jeans-Fritz“ und „Beauty-Center“ Platz, während auf der Bühne ein Barde das „Lied der Pflaumenpflückerin“ aus Brechts Puntila in den Hinweis ausklingen läßt: „Pflaumen gibt es auch rechts hinten bei Aldi.“

Auf der Bühne gibt's Kandidaten. Der Schuldezernent und der Stadtkämmerer, Wolfgang Tiefensee (SPD) und Peter Kaminski (CDU), beide um die Vierzig, wollen gleichfalls Oberbürgermeister werden. Tiefensee hat die besten Chancen, die Wahl am 5. April zu gewinnen.

Lothar Tippach, der vierte Kandidat, tritt für die PDS an und stellt sich als erster vor. Obwohl er hier der Älteste ist, läßt er seinen politischen Werdegang 1989 beginnen. Davor liegen seine Geburt in Leipzig, zwei Söhne und eine Promotion. Er wohnt in Paunsdorf und sitzt im Stadtparlament. Werner Schulz schildert als sein politisches Erwachen ein Treffen mit Biermann und Havemann im Jahr 1968. Da war er achtzehn. Dem folgte ab 1970 die „Tätigkeit in der Opposition“. Seine Promotion habe er nicht abschließen können, weil er gegen den Einmarsch der Sowjets in Afghanistan protestiert habe. In der Wendezeit nahm Schulz für das Neue Forum am Zentralen Runden Tisch in Berlin Platz, war Fraktionsführer des Bündnis 90 in der Volkskammer und sitzt seit Oktober 1990 im Bundestag. Er ist einer der wenigen ostdeutschen Politiker, die sich in Bonn behaupten können. In Leipzig hat er einige Jahre gewohnt, für den Bundestag auf der sächsischen Landesliste kandidiert. Hier ist sein Wahlkreis.

Auch der SPD-Kandidat Tiefensee war früher ein Mann der Bündnisgrünen. Auch er war in kirchlichen Friedensgruppen aktiv, durfte nicht studieren und schloß sich 1989 „Demokratie Jetzt“ an. Das kommunalpolitische Handwerk lernte er bei Hinrich Lehmann-Grube, der seit 1990 Leipzigs Oberbürgermeister ist und im Juni aus dem Amt scheidet. Lehmann-Grube, als ehemaliger Hannoveraner Stadtdirektor ein erfahrener Kommunalregent, zog den Schuldezernenten Tiefensee schließlich zur SPD rüber und baute ihn zu seinem Nachfolger auf.

Die Vergangenheit in der Opposition ist nicht das einzige, was Schulz und Tiefensee eint. Am Ende des Abends attestieren sich die beiden Kandidaten gegenseitig, daß sie in vielem das gleiche sagen. Und selbst zum CDU-Kandidaten Kaminski sind Unterschiede oft nur schwer auszumachen. Will Schulz die Banken verpflichten, mehr Wagniskapital für Existenzgründungen zur Verfügung zu stellen, pflichten ihm Tiefensee und Tippach bei. Fordert Tippach eine „kreative Geschäftsführung“ für die extrem defizitäre Neue Leipziger Messe, applaudiert Kaminski, und Schulz verlangt obendrein ein neues Management. Worauf SPD- Mann Tiefensee wiederum freundlichst vorschlägt: „Herr Schulz, vielleicht sollten Sie Geschäftsführer werden.“ So nett kann Wahlkampf sein.

Werner Schulz weiß, daß er wohl nicht Oberbürgermeister werden wird. Eine kleine Testwahl im Paunsdorf-Center ergibt, daß von hundert Stimmen der SPD- Kandidat Tiefensee die Hälfte einsackt. Schulz erhält knapp neun Prozent.

Schulz weiß auch, daß er noch weniger Chancen hätte, ginge er allein mit bündnisgrünen Themen hausieren. Weshalb er, wie er sagt, von grünen Positionen auch mal abweichen müsse. Das hat er schon häufiger probiert, zum Beispiel bei den sächsischen Landtagswahlen 1994, wo er sich für Schwarz-Grün stark machte. Am Wahlabend bekamen die Grünen die Quittung. Man könne halt mit kühnen Ideen auch auf die Schnauze fliegen, resümiert der Mann mit dem Hang zur Mitte.

Um diesmal in die Mitte vorzustoßen, macht sich der grüne OB- Kandidat für einen Großflughafen Leipzig-Halle stark und freut sich über die Beachtung durch Leipzigs Wirtschaftsjunioren. Die habe auch seine Bonner Erfahrung beeindruckt. Mit seinem „Bonner Hintergrund“ trumpft Schulz überhaupt auf in Leipzig. Er habe „alles ohne westdeutsche Hilfe gelernt“, habe 1990 aus dem Stand eine Bundestagsfraktion aufgebaut, vergleichbar immerhin einem „mittelständischen Betrieb mit 150 Mitarbeitern“. Er beherrsche auch „die Methode Kohl“, Prioritäten zu setzen, das Delegieren, eine vernünftige Stallwache zu haben. Gezielt wirbt er mit dem Image als „Ostler mit Westerfahrung“.

Zum Vorbild hat er sich einen Westler mit Erfahrung im OB- Wahlkampf genommen: den Parteikollegen Rezzo Schlauch, der am Aschermittwoch in Leipzig eine „launig-witzige politische Rede“ halten wird. Mit seiner Kandidatur hat der Stuttgarter Lokalmatador ein Erfolgsmodell geliefert, das Schulz nun in Ostdeutschland nachbauen will. Auch wenn Schlauchs Ausgangsbedingungen wegen der Schwäche der Stuttgarter SPD optimal waren und Schulz deshalb sein Ziel ortsangemessen auf 10 plus x Prozent reduziert hat. Es zu erreichen, füllt jetzt seinen ganzen Ehrgeiz aus.

Den „Bonner Mikrokosmos“ hat er hinter sich gelassen, mit seiner Frau und den beiden Kindern in Berlin so geredet, als ginge es tatsächlich darum, die nächsten sieben Jahre in Leipzig zu verbringen. Von Schlauch weiß Schulz, daß man nur glaubhaft Wahlkampf machen kann, wenn man sich persönlich voll einläßt. Und so redet er vom Oberbürgermeisteramt, als wäre es die Erfüllung seines Daseins. Es scheint ihm greifbarer, lebensnaher als die Bonner Politik – wo doch der Leipziger Posten für ihn alles andere als greifbar ist. Zweifelnde Fragen nach dem Erfolg beantwortet er mit noch mehr Entschlossenheit. Für Werner Schulz gibt es derzeit schlicht keinen Ort außer Leipzig.

Und wer mit ihm durch die Innenstadt schlendert, braucht nicht viel Phantasie, um einen Stadtvater neben sich zu wähnen. Dessen Blicke gleiten wohlwollend über aufwendig renovierte Altbauten, verkniffen über den allgegenwärtigen Leerstand. Schulz blickt häufig verkniffen beim Gang vom Rathaus zur Nikolaikirche. Hier kann er die Kehrseite des Paunsdorf- Centers und der Neuen Messe betrachten: kleine Läden, die nicht zu vermieten sind, alte Messehäuser, die in beklagenswertem Zustand vor sich hingammeln. Doch Schulz klagt nicht, er macht Pläne.

Zum Beispiel diesen, das Bildermuseum in einem der Messehäuser unterzubringen statt im bereits geplanten, teuren Neubau. Und in schwärmerischem Vorgriff aktiviert er schon mal seinen guten Draht nach Bonn: Den Bundeskanzler selbst oder dessen Minister Bohl werde er überzeugen, denn vom eingesparten Geld könne man gleich 30 Millionen Mark in die Sanierung des Völkerschlachtdenkmals stecken. Zwei Fliegen mit einer Klappe, solche Coups machen Schulz richtig Spaß, da gerät er in Fahrt und vergißt fast, daß seine Pläne wohl nicht Leipziger Wirklichkeit werden.

Schulz macht überhaupt viele Pläne. Während Rezzo Schlauch sich den Stuttgartern vor allem als einer der ihren präsentierte, der sie mit seiner ganzen barocken Fülle wortgewaltig vertreten würde, mutet Schulz den Leipzigern ein sechzehnseitiges „Programmangebot“ zu. Weil es bei der OB-Wahl um mehr gehe als um Gesichter. Und während Schlauch, ganz katholischer Genußmensch, im Wahlkampf die halbe Stadt zu Schlemmereien einlud, präsentiert sich der Protestant Schulz auf den Plakaten als schlipsbindender erster Diener der Kommune. Um zu zeigen, „daß du bereit bist, Aufgaben zu übernehmen“.

Darauf hat er sich generalstabsmäßig vorbereitet: Kaum daß er nominiert war, mußten seine Parteifreunde massenweise Material herbeischleppen, lief er mit einem Kunsthistoriker durch die Stadt und redete mit den „Leistungsträgern“ in Wirtschaft und Verwaltung. Und blieb auch noch „im Zeitplan“.

Und was macht Werner Schulz am 6. April, dem Tag nach der OB- Wahl? Dann bindet er wohl den Schlips wieder ab und fährt von Leipzig zurück nach Bonn. Auch dort gibt es schließlich Aufgaben zu übernehmen. Zum Beispiel die, den Bundeskanzler abzulösen, der ihn auf dem Weg nach Leipzig im November so freundlich an seine Seite nötigte.