Erfahrungshunger

Es begab sich zu Anfang der achtziger Jahre. Männer und Frauen in langen Gewändern ziehen durch die Lüneburger Heide. Die Köpfe bedeckt oder in Tücher gehüllt, meditieren sie Koranverse laut vor sich hin. Fromme Muslime? Nein, es handelte sich um meist getaufte gebürtige Bundesdeutsche.

Im Alltagsleben waren sie Hochschullehrer, Psychotherapeuten, Kaufleute, Studienräte, Elektroingenieure, Sozialpädagogen. Davor konnte man die gleichen Leute in Selbsterfahrungsgruppen, Gestaltseminaren oder Bioenergetikworkshops antreffen. Oder beim Bhagwan in Poona.

Zu Zeiten der Studentenbewegung hätte man einige der späteren Koranbeter bei Demos gegen den Vietnamkrieg sehen können. Freilich kamen bereits 68 auch persönliche Sorgen zum Vorschein: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.“

Und heute? Der Hunger nach religiöser Erfahrung ist weiter gewachsen. Das Angebot, ihn zu stillen, umfaßt vielerlei Varianten, von A wie Aberglauben über E wie Esoterik und F wie Fundamentalismen bis hin zu Z wie Zen. Kaum jemand kommt allerdings auf den Gedanken, sich an die Tradition zu halten, die oft noch die eigene Kindheit geprägt hat: das Christentum.

Liegt es an den Kirchen? Wie folgerichtig waren die Schritte, die, so oder ähnlich, viele aus der „68er“-Generation gegangen sind? Welche Ungleichzeitigkeiten tun sich auf zwischen der Entwicklung in der Gesellschaft und in den Kirchen?

Dorothee Sölle, die den Weg der Bewegungen mitgegangen ist und die Kirche in- und auswendig kennt (und an ihr zu leiden hatte), hat zu diesen Fragen ein bedenkenswertes Buch verfaßt. So kann eine Debatte beginnen – nicht nur für Christen.