■ Neue Indizien stellen die in der Geschichtswissenschaft inzwischen anerkannte These in Frage, der Anarchist Marinus van der Lubbe habe 1933 allein den Reichstag angezündet Von Alexander Bahar und Wilfried Kugel
: Ein Historikerstreit ist wieder offen

Die Autoren dieses taz.mag-Dossiers stützen sich auf die Originalakten des Reichsgerichts, des Oberreichsanwalts und der Gestapo. Diese Dokumente lagen seit Kriegsende in den Moskauer KPdSU-Archiven, von 1982 an im „Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED“ unter Verschluß.

Erst einmal muß der bolschewistische Revolutionsversuch aufflammen!“ notiert Joseph Goebbels in seinem Tagebuch am 31. Januar 1933, einen Tag nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler. Weniger als einen Monat später erfüllt sich die Prophezeiung des Chefpropagandisten der Nazis. In den Abendstunden des 27. Februar 1933 geht das Berliner Reichstagsgebäude in Flammen auf. Bereits kurz nach Bekanntwerden des Brandes treffen Goebbels und Hitler mit einer Schar von Paladinen am Brandort ein. Ohne die polizeilichen Ermittlungen abzuwarten, verkündet Hitler mit theatralischer Geste dem Korrespondenten des britischen Daily Express, der zur rechten Zeit am rechten Ort ist, dies sei ein von Gott gegebenes Zeichen, um den Kommunismus mit eiserner Faust zu vernichten. Noch in derselben Nacht lassen die Nazis im gesamten Reich über 5.000 Oppositionelle verhaften und in neugeschaffenen Konzentrationslagern verschwinden. Einen Tag darauf werden mit der „Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat“ alle entscheidenden bürgerlichen Grundrechte außer Kraft gesetzt, und zwar, wie sich zeigen sollte, für die gesamte Dauer des Dritten Reiches. Im Besitz des Monopols über Presse und Rundfunk – und begleitet vom brutalen Terror der SA – starten die Nazis einen einmaligen propagandistischen Feldzug gegen „die kommunistischen Brandstifter“.

Dem zuständigen Richter entzogen, wurden die polizeilichen Ermittlungen zum Reichstagsbrand einer von Hermann Göring – zweiter Mann in der NS-Hierarchie – eingesetzten Brandkommission der Politischen Polizei übertragen. Sie wurden tendenziös, das heißt ausschließlich in Richtung vermeintlicher kommunistischer Täter geführt. Die Zeugen hatten Grund, Angst um Leib und Leben zu haben. Der Reichstagsbrandprozeß war eine Farce, vorgeplant und manipuliert, mit meineidigen NS-Zeugen sowie kommunistischen Zeugen, die aus dem Konzentrationslager vorgeführt wurden.

Dennoch erreichten die Nazis nicht, was sie wollten. Der Prozeß wurde für sie zum Desaster. Die Veröffentlichungen der deutschen Emigrantenpresse (vor allem Willi Münzenbergs „Braunbuch gegen Reichstagsbrand und Hitlerterror“) und ein in London tagender internationaler Gegenprozeß führten dazu, daß die Weltöffentlichkeit schon bald die Naziss für die Brandstifter hielt. Auch die Verhandlungen vor dem Leipziger Reichsgericht, wo der kommunistische Angeklagte Georgi Dimitroff die von den Nazis inszenierte „Rechtsstaatlichkeit“ geißelte, wurden für Hitler und Goebbels so peinlich, daß die Rundfunkübertragung der Verhandlung bereits nach wenigen Sitzungen abgebrochen wurde.

Dimitroff und die mitangeklagten Kommunisten Popoff, Taneff und Torgler mußten „mangels Beweisen“ freigesprochen werden. Nur der im brennenden Reichstag verhaftete und geständige Marinus van der Lubbe, ein anarchistischer Wirrkopf, wurde der Brandstiftung für schuldig befunden und im Januar 1934 aufgrund eines nachträglich erlassenen Gesetzes („Lex van der Lubbe“) hingerichtet.

Bereits die Gutachter im Leipziger Reichstagsbrandprozeß zeigten sich davon überzeugt, daß der Niederländer den Brand unmöglich allein gelegt haben konnte. Dafür sprach nicht nur die Tatsache, daß van der Lubbe nach einem Augenunfall mehr als halberblindet war, sondern auch die kurze Zeit der Brandentstehung und das schlagartige Aufflammen des Plenarsaals.

Kohlenanzünder machen kein Großfeuer. Schon 1970 hat ein Gutachten des Thermodynamischen Instituts der Technischen Universität Berlin unter Leitung von Prof. Karl Stephan nachgewiesen, daß eine Alleintäterschaft technisch unmöglich war. Es basiert auf dem Zeitplan der Brandstiftung, wie er in den zeitgenössischen Gutachten für das Leipziger Reichsgericht angegeben und vom Gericht selbst vorausgesetzt wurde. Wie schon damals die Gutachter kam auch Stephan zu dem Schluß, daß ein einzelner Täter in so kurzer Zeit und ohne nennenswerte Hilfsmittel ein Großfeuer dieses Ausmaßes nur unter der Voraussetzung entfachen konnte, daß der Plenarsaal des Reichstagsgebäudes präpariert war.

Um den Plenarsaal nach Einsturz der Kuppel in ein Flammenmeer zu verwandeln – wie es von den Zeugen geschildert wurde – war es notwendig, daß zuvor die Inneneinrichtung auf Zündtemperatur erhitzt wurde, wofür bei vorsichtiger Schätzung der Gutachter „außer den Portieren noch 200 kg Holz völlig verbrannt sein“ mußten.

Wie neuere und frühere Versuche ergaben, so Stephan, „ist es aber ausgeschlossen, eine derartige Holzmenge in Form von Tischen, Stühlen u.a. in zehn Minuten ohne andere Hilfsmittel als Kohlenanzünder und Stoffetzen zu verbrennen“. Hierfür müssen nach Ansicht der Gutachter „leicht entzündbare Substanzen im Plenarsaal vorhanden gewesen oder vorher eingebracht worden sein“.

Aus den jetzt vollständig zugänglichen Gerichtsprotokollen geht auch hervor, daß van der Lubbe sogar schon alle von ihm mitgeführten Kohlenanzünder verbraucht hatte, als er den Plenarsaal betrat, von wo der Großbrand ausging. Den Raum selbst will er nur dadurch in Brand gesetzt haben, „daß ich beim Eintreten den Vorhang in Brand gesteckt habe und mit dem brennenden (Tisch-)Tuch, was ich bei mir hatte, herumgelaufen bin“.

Selbstentzündliche Brandmittel mit Phosphor im Plenarsaaal gefunden. In seinem Ergänzungsgutachten vom 8. November 1933, das erst nach Öffnung der DDR-Archive im vollen Wortlaut bekannt wurde, enthüllte der am Reichsgericht vereidigte chemische Gutachter Dr. Wilhelm Schatz noch ein besonders brisantes Untersuchungsergebnis. Sowohl an den Entlüftungsklappen des Plenarsaals, an den Vorhängen hinter dem Präsidententisch wie auch an diversen anderen Stellen konnte Schatz Reste von Brandmaterialien feststellen: „Das gesamte Material enthielt die Verbrennungsprodukte von Phosphor und Schwefel aus dem Schwefelkohlenstoff in den verschiedensten Oxydationsstufen.“ Auch Erdölrückstände ließen sich laut Schatz an verschiedenen Stellen nachweisen.

Der Gutachter kam deshalb zu dem Ergebnis, daß bei der Brandlegung im Plenarsaal eine selbstentzündliche Flüssigkeit (Phosphor in Schwefelkohlenstoff) benutzt worden sein mußte. Spuren davon fanden sich an der Manteltasche van der Lubbes, woraus Schatz schloß, daß der Angeklagte beim Lauf durch das brennende Gebäude „einen Rest der Zündflüssigkeit oder einen bereits mit der Zündlösung getränkten Kohlenanzünder oder Stoff fand, zu sich steckte und mit auf den Weg nahm“, der sich dann unterwegs in der Tasche entzündete und diese verbrannte.

Phosphorhaltige selbstentzündliche Brandmittel nutzte seinerzeit die SA für Anschläge, indem sie diese in Hausflure und Fenster von öffentlichen Gebäuden oder auf gegnerische Wahlplakate warf. Das gab interessanterweise der vielfach der Beteiligung am Reichstagsbrand beschuldigte SA-Mann Hans-Georg Gewehr 1961 vor dem Düsseldorfer Oberlandesgericht zu. Er selbst habe seinerzeit eine „Phosphorlösung“ als Brandmittel in SA- Kreisen vorgeführt. Beim Einsatz des Mittels will Gewehr höchstens probeweise teilgenommen haben, um zu sehen, „ob sich das ,Kampfmittel‘ bewährte“.

Die Funde des Gutachters Schatz im ausgebrannten Reichstag sind von den Vertretern der Alleintäterthese wiederholt angezweifelt worden. Daß Schatz tatsächlich „im Brandobjekt Petroleum- und Phosphorspuren gefunden“ hatte, bestätigte indessen 1976 der Chemiker Prof. Walter Specht, seinerzeit Mitarbeiter von Schatz an dessen Privatinstitut in Halle. Seinem ehemaligen Vorgesetzten bescheinigte Specht in einem Schreiben an den Historiker Prof. Karl Dietrich Erdmann nicht nur unbestreitbares Fachwissen, sondern auch wissenschaftliche und politische Integrität.

In seinem Ergänzungsgutachten kam Schatz sogar zu dem Ergebnis, daß van der Lubbe nicht nur mit dem eigentlichen Großbrand im Plenarsaal nichts zu tun hatte, sondern wahrscheinlich auch „an der Brandlegung weder im Restaurationsraum noch überhaupt wenig oder so gut wie gar nicht beteiligt gewesen“ sei. Die plausible Annahme, van der Lubbe habe nur als Strohmann der eigentlichen Täter fungiert, werden durch eine Reihe weiterer Indizien erhärtet.

Fünfzehn bis zwanzig verschiedene Brandherde. So zeigen die Originalakten, daß van der Lubbes Einstieg ins Reichstagsgebäude nicht so abgelaufen sein kann, wie es die im Auftrag Görings ermittelnden Kriminalisten darstellten. Der Holländer selbst machte in seinen Vernehmungen widersprüchliche Angaben über seinen Weg vom Einstieg ins Reichstagsgebäude bis zum Plenarsaal und zum angeblichen Ablauf der Brandlegungen, die auf eine weitgehende Unkenntnis der örtlichen Situation schließen lassen. Über die von dem Hausinspektor Alexander Scanowitz im Plenarsaal beobachteten 15 bis 20 Brandstellen konnte der Festgenommene keine Angaben machen. Van der Lubbe wörtlich: „Ich habe im Plenarsaal keine 15 bis 20 Brandstellen angelegt, und ich kenne sie auch nicht.“

Nicht identifizierte Fingerabdrücke. Erst am zweiten Tag nach dem Brand untersuchten die Beamten der Spurensicherung den angeblichen Kletterweg van der Lubbes an der Außenwand des Reichstagsgebäudes und die angebliche Einstiegsstelle durch das Fenster im Reichstagsrestaurant. Vor dem Reichsgericht erklärte der zuständige Kriminalkommissar, daß man hier Fingerabdrücke festgestellt habe, die sich aber „nicht für eine daktyloskopische Behandlung eigneten“. Von weiteren sichergestellten Fingerspuren war nicht die Rede.

Wie die erst in jüngster Zeit in den Originalakten aufgefundenen Berichte des Erkennungsdienstes zeigen, ist diese Aussage zwar insofern richtig, als weder an der Außenwand noch im Inneren des Reichstagsgebäudes Fingerabdrücke des angeblichen Alleintäters festgestellt werden konnten.

Die Berichte beweisen aber auch, daß die zuständigen Beamten vor dem Reichsgericht nur die halbe Wahrheit sagten. Fingerspuren wurden laut den Originalberichten nämlich auch in den Räumen im Erdgeschoß gesichert.

Auch im Reichstagsrestaurant, am Rahmen des Türvorbaus mit der eingeschlagenen Scheibe sowie am Teller, mit der das Fenster der Durchreiche eingeschlagen wurde, konnten brauchbare Fingerspuren festgestellt werden. Laut Ermittlungsbericht wurden diese „mit den Fingerabdrücken des festgenommenen van der Lubbe eingehend verglichen, ohne daß eine Identität festgestellt werden konnte“.

Die am Tatort gesicherten – und vor Gericht verschwiegenen – Fingerspuren stammen also von Personen, die nicht ermittelt werden konnten oder durften. So wurden beispielsweise die Fingerabdrücke des berüchtigten SA-Führers Karl Ernst nicht untersucht, der als Begleiter von Hitler und Goebbels am brennenden Reichstag auftauchte. Und während die Vertreter der Alleintäterthese behaupten, Ernst habe ein Alibi gehabt, wurde dies in Wirklichkeit nie überprüft.

In seiner Vernehmung vor dem Reichsgericht allerdings verschwieg der für die Spurensicherung verantwortliche Kriminalkommissar Walter Bunge die nicht von van der Lubbe stammenden Fingerspuren, die im übrigen mit einem weiteren, wenig bekannten Fakt harmoniert: Van der Lubbe wurde entgegen der NS-offiziellen Behauptung nicht etwa bei einer Brandstiftungshandlung ertappt, sondern nur am Tatort aufgegriffen – eine mögliche Erklärung dafür, warum man auch keine Fingerabdrücke von ihm finden konnte.

Van der Lubbe: Nazi-Provokateuren aufgesessen. Der Niederländer war ein anarchistischer Schwärmer, der vermutlich – wie der frühere Funktionär der Allgemeinen Arbeiterunion (AAU), Alfred Weiland, nach dem Zweiten Weltkrieg aussagte – nationalsozialistischen Provokateuren aufgesessen war. Um den 20. Februar 1933 erwarteten die Berliner Mitglieder der AAU den Vertreter einer befreundeten rätekommunistischen holländischen Organisation, Piet van Albada. An dessen Stelle erschien jedoch van der Lubbe, der von „einflußreichen Freunden“ erzählte, mit denen er gemeinsam eine „revolutionäre Aktion als Fanal“ zu einem Aufstand starten wollte. Die AAU und andere linksgerichtete Organisationen sollten sich nach van der Lubbes Vorstellungen daran beteiligen. „Du bist Provokateuren aufgesessen!“ habe er van der Lubbe gewarnt, berichtet Weiland.

Denn auch in der AAU wußte man, daß sich die Nazis nichts sehnlicher wünschten als sichtbare, am besten kommunistisch inspirierte Unruhen, „um vor den Deutschen und der Weltöffentlichkeit als Ordnungsfaktor auftreten zu können“. Von einer direkten Aktion, wie sie van der Lubbe vorschlug, würden nur die Nazis profitieren. Erst nach dem Brand erfuhr Weiland, daß van der Lubbe seine neuen Freunde in einer Kneipe getroffen hatte, in der zum damaligen Zeitpunkt „ausschließlich SA- und Polizeispitzel verkehrten“. Zwei AAU-Mitglieder, die sich mehrfach mit van der Lubbe trafen – darunter ein gewisser Wilfried van Owen – sollen später der SA beigetreten sein. Nach Aussagen des AAU-Genossen Ernst Biedermann soll van Owen während des Rußlandfeldzugs propagandistische Aufgaben übernommen und im Goebbels-Ministerium einen wichtigen Posten erhalten haben. Demnach kann es sich hier nur um den Privatsekretär von Goebbels, Wilfred von Oven, handeln (Autor von „Mit Goebbels bis zum Ende“), der tatsächlich als Kriegsberichterstatter an der Ostfront war.

Die Berichte Weilands, die von Ernst Biedermann bestätigt wurden, lassen sich nahtlos mit den Informationen in Einklang bringen, die der Journalist Willi Frischauer – seinerzeit Berliner Korrespondent der Wiener Allgemeinen Zeitung – aus NS- Kreisen erhielt. Von seinen Gewährsmännern aus der Nazi-Unterwelt wurde Frischauer zugetragen, Mitglieder des SA- Sturms 17 hätten den in Berlin herumvagabundierenden van der Lubbe aufgegriffen. Von dessen Plan, den Reichstag anzuzünden, sei Göring informiert worden. Dieser habe mit Goebbels vereinbart, Lubbe gewähren zu lassen, wobei er aber von Mitgliedern des Sturm 17 beobachtet würde. Als Leiter einer Parallelaktion habe man dann den Berliner SA-Führer Ernst ausgesucht. Frischauer: „Ernst, dem die SA-Ehrenwache vor dem Palais des Reichstagspräsidenten unterstand, wußte, daß ein unterirdischer Gang als Teil der Heizungsanlage das Gebäude mit dem Reichstag verband. Wenn van der Lubbe und einige SA- Männer den Reichstag in Brand setzten, konnten die letzteren unschwer durch diesen Gang entfliehen, Görings Palast erreichen und durch die Hintertür hinausschlüpfen, während Lubbe als der Kommunist verhaftet wurde, der den deutschen Reichstag abgebrannt hätte.“

Der unterirdische Gang war doch offen. In einer unbedachten Äußerung unmittelbar nach dem Brand hatte Göring die Überzeugung geäußert, die Reichstagsbrandstifter hätten den unterirdischen Heizungstunnel benutzt, der das Reichstagsgebäude mit dem Palais des Reichstagspräsidenten – Görings Amtssitz – verband. Der Anführer des „SS-Kommando Göring“ namens Walter Weber, der auf Befehl von Görings Adjutant in der Brandnacht den unterirdischen Gang zu kontrollieren hatte, sagte vor dem Reichsgericht aus, unmittelbar nach Ausbruch des Brandes habe er die Zugangstüren zum unterirdischen Gang verschlossen vorgefunden.

Daraus schließen die Vertreter der Alleintäterthese, daß ein mögliches Brandstifterkommando der SA nicht unbemerkt abziehen konnte. Mit Hilfe der Ori- ginalakten läßt sich jedoch das Gegenteil belegen: Danach muß die Tür, an der der Gang ins Reichstagspräsidentenpalais mündet, in der Brandnacht bis ein Uhr nachts offen gewesen sein – so die Zeugenaussage des Nachtpförtners Adermann.

Normalerweise wurde diese Tür beim ersten Rundgang des Nachtpförtners gegen 22.30 Uhr geschlossen. Wie der von den Stechuhren gestempelte Papierstreifen jedoch beweist, trat der Nachtpförtner Paul Adermann seinen Gang in der Nacht vom 27. zum 28. Februar erst um 0.44 Uhr an – weil Adermann in seiner Loge auf Gäste von Göring zu warten hatte. Wenn auch die offene Tür noch nichts beweist, so ist die Falschaussage des SS-Offiziers Weber, sie sei geschlossen gewesen, doch ein gewichtiges Indiz gegen die Nazis.

Dokumente bestätigen: Löscharbeiten wurden behindert. Nach dem Krieg berichteten Angehörige der Berliner Feuerwehr, die an den Löscharbeiten im brennenden Reichstagsgebäude mitgewirkt hatten, sie seien von Personen in Polizeiuniform mit vorgehaltener Waffe bei den Löscharbeiten behindert worden.

Von Verfechtern der Alleintäterthese als Erinnerungstäuschung der Betreffenden abgetan, werden diese Aussagen nun durch Originalprotokolle bestätigt. Die Dokumente liefern weiterhin eine Reihe von Hinweisen auf andere Tatverdächtige aus dem NS-Umfeld, denen die ermittelnden NS-Kommissare nicht nachgingen beziehungsweise nicht nachgehen durften.

Hans Bernd Gisevius – ein glaubwürdiger Zeuge? Dr. Hans Bernd Gisevius war 1933 Gerichtsassessor sowie Mitarbeiter im Geheimen Staatspolizeiamt unter dem ersten Gestapo-Chef Rudolf Diels. Im Auftrag von Diels – der dies jedoch später bestritt – war Gisevius zeitweise Beobachter des Leipziger Reichstagsbrandprozesses. Dies geht aus den inzwischen zugänglichen Originalunterlagen zweifelsfrei hervor. 1940 wurde er ins deutsche Generalkonsulat Zürich versetzt, wo er zuletzt den Rang eines Vizekonsuls bekleidete. Er arbeitete für den US-Geheimdienst und gehörte zu den Verschwörern vom 20. Juli 1944.

1945 trat Gisevius als Zeuge im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß auf. Unter Eid machte er dort auch umfangreiche Aussagen zum Reichstagsbrand. In seinem 1946 in der Schweiz publizierten Bericht „Bis zum bittern Ende“ teilte Gisevius Details der Brandstiftung mit, die Diels und die Nazis belasteten und in wesentlichen Punkten durch neuere Dokumentenfunde belegt werden können.

Wie auch der erwähnte Journalist Willi Frischauer, beschrieb Gisevius, den Brand habe ein SA-Kommando gelegt, das unter Führung von Hans-Georg Gewehr, Chef der Stabswache von Karl Ernst, durch den unterirdischen Tunnel gekommen sei. Van der Lubbe sei nur ein Strohmann gewesen. Ein SA-Mann namens Adolf Rall, so erfuhr Gisevius von einem Gewährsmann namens Karl Reineking, habe sich aus der Haft gemeldet und über Einzelheiten der Reichstagsbrandstiftung berichtet.

Reineking, Angestellter der Berliner Justizbehörden und nachweislich im Gefängnis Tegel an Ermittlungen zum Reichstagsbrand beteiligt, soll das Vernehmungsprotokoll Ralls abgefangen und an Ernst weitergeleitet haben. Unter Mitwirkung Reinekings sei Rall daraufhin als gefährlicher Mitwisser ermordet worden.

Gestapo-Chef Rudolf Diels, Zeuge der Gegenseite. Die zum Teil recht blumige Darstellung von Gisevius wurde bereits 1949 vom ersten Gestapo-Chef Rudolf Diels in einer umfangreichen Serie, die er für den Spiegel schrieb („Die Nacht der langen Messer fand nicht statt“), als Märchen abgetan, Gisevius selbst als notorischer Lügner und Wichtigtuer dargestellt. In dem stark apologetischen Text, der die Nazis von jeder Mitverantwortung am Reichstagsbrand freispricht und später unter dem Titel „Lucifer ante portas“ als Buch erscheint, charakterisiert Diels sich selbst als überzeugten Demokraten, der seine Funktion als erster Gestapo-Chef nur dazu genutzt habe, schlimmere Ausschreitungen der SA zu verhindern.

Ähnliche Töne hatte zuvor in der Zeitschrift des Schweizer NS-Kollaborateurs Wilhelm Frick Neue Politik ein ehemaliger Mitarbeiter von Diels angeschlagen. In einem unter Pseudonym erschienenen Aufsatz ließ Heinrich Schnitzler, seinerzeit Regierungsassessor bei der Politischen Polizei und Mitorganisator der illegalen Verhaftungsaktion in der Brandnacht, einen gewissen Dr. Schneider (kein anderer als Schnitzler selbst!) als Kronzeugen für die NS-Unschuld am Brand auftreten.

Wie sich erst später herausstellte, hatten Diels und Schnitzler ihre Darstellungen genau miteinander abgestimmt. Ihrer Nachkriegskorrepondenz ist zu entnehmen, daß beide den sie belastenden Gisevius als ernste Bedrohung ansahen, den es bloßzustellen galt.

An die Darstellungen von Schnitzler und Diels knüpft 1959/60 – wiederum in einer großangelegten Spiegel-Serie – auch der Amateurhistoriker Fritz Tobias an. Darin führt Tobias den Kampf von Diels und Schnitzler gegen Gisevius – dem sich inzwischen auch der Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein verschrieben hat – in einem zwanzigseitigen Kapitel („Täuschende Erinnerungen. Die Erinnerungen des Hans Bernd Gisevius“) weiter, indem er diesem Ungenauigkeiten in eher nebensächlichen Details „nachweist“ und den Bericht von Gisevius genüßlich zerpflückt.

Unter Berufung auf Diels behauptet Tobias, Rall sei bereits 1932 „wegen Verrats“ aus der SA ausgeschlossen worden. Aus Rachsucht, und weil er damit eine Möglichkeit gesehen habe, zu Geld zu kommen, habe er über den Gebrauch eines phosphorhaltigen Brandmittels in der SA berichtet. Auf diese Idee sei Rall gekommen, nachdem in den Zeitungen von dem sensationellen Brandmittel berichtet worden war, das der Gutachter Dr. Schatz am 23. Oktober 1933 im Gerichtssaal erwähnt und am Tag darauf unter Ausschluß der Öffentlichkeit vorgeführt hatte.

Die von Diels eingeräumte Ermordung Ralls durch die SA erklärt er damit, daß es katastrophale Folgen im In- und Ausland gehabt hätte, wenn die Aussage Ralls über die Verwendung des geheimnisvollen Brandmittels durch die SA öffentlich bekanntgeworden wäre. In einem presserechtlichen Prozeß vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf Anfang der sechziger Jahre konnte die Darstellung von Gisevius weder bestätigt noch widerlegt werden.

Seltsamerweise gelang es damals noch nicht einmal, die Identität des SA-Mannes Rall zu ermitteln. Gisevius wurde zur teilweisen Unterlassung seiner Behauptungen verurteilt, weil er sie nicht beweisen konnte.

Ein Gefängnisdirektor, der zuviel wußte. Erst durch die nun vorliegenden Originalermittlungsakten konnte die Identität von Rall einwandfrei geklärt und der Mord an ihm aufgehellt werden. Demnach wurde Adolf Rall, Chauffeur im Dienst der NSDAP, im November 1933 von der Gestapo erschossen, angeblich bei einem Fluchtversuch. Zuvor hatte Rall, wegen Verdachts des Autodiebstahls inhaftiert, in der Untersuchungshaft „Enthüllungen“ gemacht, „wonach die NSDAP verdächtigt wurde, der Brandstiftung im Reichstag nahezustehen“ – so die vorsichtige Formulierung des Direktors der Strafanstalt Berlin-Tegel, Oberregierungsrat Felix Brucks.

Diesem war es offenbar gelungen, Rall, der wegen der Wichtigkeit seiner Angaben nur vor dem Reichsgericht aussagen wollte, zum Reden zu bringen. Am 20. Oktober 1933 hatte sich Rall aus der Haft gemeldet, um Angaben über den Reichstagsbrand zu machen – also drei Tage vor der Erwähnung des selbstentzündlichen Brandmittels im Reichstagsbrandprozeß. Die Spekulation von Tobias, Rall sei erst durch die Zeitungsberichte über dieses Ereignis zu seiner Aussage inspiriert worden, verliert also ihre Grundlage.

Wie sich nun aufgrund weiterer Recherchen herausstellte, war Rall zwar – entgegen der ursprünglichen Annahme der Verfasser – seit Dezember 1932 in Haft, scheidet demnach als unmittelbarer Mittäter der Reichstagsbrandstiftung aus. Daß Rall dennoch über Details der geplanten Brandstiftung Bescheid gewußt haben muß, geht aus einem jüngst entdeckten Bericht der deutschen Exilantenzeitung Pariser Tageblatt vom Dezember 1933 hervor, der sich auf eine „über jeden Zweifel erhabene Berliner Quelle“ beruft – wahrscheinlich eben jenen Gefängnisdirektor Felix Brucks. Darin wird Rall als Mitglied des oben schon erwähnten SA-Sturms 17 bezeichnet, der gesehen habe, wie „Explosivflüssigkeiten“ in den unterirdischen Gang geschafft wurden.

Die Brisanz des Falles Rall für die NS- Führung wird unterstrichen durch ein Schreiben, das von den Autoren in der Ermittlungsakte zum Mordfall Rall gefunden wurde. Sie konnte in den Beständen des ehemaligen Zentralen Staatsarchivs Merseburg ausfindig gemacht werden.

Göring höchpersönlich ordnet darin die Niederschlagung eines von der Staatsanwaltschaft Berlin in der Sache Rall eingeleiteten Ermittlungsverfahrens an. Es ist kaum anzunehmen, daß sich der eitle und standesbewußte NS-Hierarch ohne gravierenden Grund in die Ermittlungen wegen der Ermordung eines einfachen SA- Mannes eingemischt hätte. Dafür spricht auch, daß in der Wohnung, die Rall zusammen mit seiner Mutter bewohnt hatte, kurz nach dessen Tod eine Hausdurchsuchung stattfand. Offenbar vermuteten die braunen Machthaber, Rall habe etwas besessen, das sie belasten könnte.

Erst jetzt wurde das Schicksal des Tegeler Gefängnisdirektors offenbar: Kurz nachdem er sich im Mai 1938 unter Hinweis auf die „Enthüllungen“ Ralls an den Oberreichsanwalt gewandt hatte, wurde Felix Brucks, preußischer Beamter seit über 30 Jahren, in „Erholungsurlaub“ geschickt. Im Juni 1938 verstarb er unter ungeklärten Umständen. In seiner wiederaufgefundenen Personalakte fehlt dazu jede Angabe. Das Schreiben von Brucks war der Gestapo in die Hände gefallen, deren letzte Bearbeitungsvermerke vom Mai 1938 datieren.

Karl Reineking. Amtliche Todesursache im KZ Dachau: Selbstmord. Auch der weitere Lebensweg des Gisevius-Informanten Karl Reineking verdient Aufmerksamkeit. Kurz nach der Ermordung Ralls setzte sich SA-Führer Ernst persönlich für Reineking ein, welcher „der SA einen unerhörten Dienst erwiesen“ habe – offenbar diesen Mord. Nach Aussage seines Bruders wurde Reineking später von den Nazis verfolgt, weil er „gewisse Unterlagen“ über den Reichstagsbrandprozeß für sich behalten habe, die eigentlich vernichtet werden sollten. Wegen Vergehens gegen das „Heimtückegesetz“ wurde er schließlich zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt und ins KZ Dachau eingeliefert. Dort kam er am 2. Juni 1936 – kurz vor Ablauf seiner Haft – zu Tode. Amtliche Todesursache: Selbstmord.

Die Massenverhaftungen – im voraus geplant. War die Blitzaktion, mit der noch in der Brandnacht rund 5.000 Oppositionelle in ganz Deutschland verhaftet wurden, geplant? Von denjenigen, die dem ersten Gestapo-Chef Rudolf Diels Glauben schenken, wurde in der Vergangenheit immer wieder behauptet, die Verhaftungsaktion unmittelbar nach dem Reichstagsbrand sei improvisiert worden. Göring – damals auch kommissarischer preußischer Innenminister – brüstete sich vor dem Leipziger Reichsgericht mit dem Erfolg dieser Aktion, will hierbei aber nur auf die Verhaftungslisten seines Amtsvorgängers zurückgegriffen haben.

Göring räumte zwar ein, daß diese Listen fortgeschrieben wurden, leugnete aber jeden Bezug zum Reichstagsbrand. Daß ein solcher Bezug dennoch existiert, geht aus einer im Stadtarchiv Herdecke entdeckten Anweisung des Höheren Polizeiführers West in Recklinghausen vom 18. Februar 1933 hervor, der von allen Polizeidienststellen die Vorlage von Listen mit den Namen und Adressen sämtlicher Führer der KPD und ihr nahestehender Organisationen verlangte – und zwar bis zum 26. Februar, dem Tag vor dem Reichstagsbrand. Die Verhaftungsaktion wurde also nicht im Anschluß an den Brand spontan angeordnet, sondern war vorbereitet.

1982 wurde in einer in Ost-Berlin erschienenen Dokumentensammlung („Georgi Dimitroff und der Reichstagsbrandprozeß“) ein vom Chef der Politischen Polizei Rudolf Diels eigenhändig unterzeichnetes Polizeifunktelegramm veröffentlicht, verfaßt am Nachmittag vor dem Reichstagsbrand um 14.59 Uhr. Darin kündigt Diels für den Tag der Reichstagswahl angebliche gewalttätige Aktionen der KPD an. Das Telegramm schließt mit dem Satz: „Geeignete Gegenmaßnahmen sind sofort [Hervorhebung der Autoren] zu treffen, kommunistische Funktionäre erforderlichenfalls in Schutzhaft zu nehmen.“ Die Verhaftungsaktion wurde also vom Chef der Politischen Polizei persönlich – sechs Stunden vor dem Reichstagsbrand – angeordnet.

Hellseher Hanussen und sein „Todeshoroskop“ für den Reichstag. Bereits am 24. September 1932 hatte der populäre, mit NS-Prominenz verkehrende „Hellseher“ Erik Jan Hanussen, ein „Todeshoroskop“ des Reichstags in seiner Hanussen-Zeitung veröffentlicht und den „Sturz der Verfassung“ durch das „Eingreifen“ der NSDAP prophezeit. Im Zusammenhang mit einem weiteren „Todeshoroskop“ des Reichstags am 24. Februar 1933 sprach Hanussen von „Provokationen“, die „die Wahl in letzter Minute zu gefährden“ drohten. Mehr könne „an dieser Stelle nicht angedeutet werden“. Hanussens Sekretär bestätigte am 8. März 1933, daß mit diesen „Provokationen“ die Reichstagsbrandstiftung gemeint war.

In einer Séance am Abend vor der Brandstiftung schließlich sah Hanussen dann „Flammen aus einem großen Haus“ hervorbrechen. Vermutlich hatte der „Hellseher“ die Vorabinformationen von seinem Freund, dem korrupten SA-Grafen Wolf Heinrich von Helldorf, erhalten. Hanussen sollte diese Indiskretion nicht lange überleben. Keine vier Wochen später wurde Helldorf abgesetzt und Hanussen auf Befehl von Karl Ernst durch die SA ermordet.

Systematische Absetzung von führenden „Weimarer“ Polizeibeamten. Die bereits dargestellten Ereignisse im Vorfeld des Reichstagsbrandes fügen sich nahtlos in eine Kette von Maßnahmen, mit denen die Nazis in jenen Wochen auf die Alleinherrschaft zusteuerten.

Am 17. Februar erging Görings berüchtigter Schießerlaß an die preußische Polizei, am 22. Februar verstärkte Göring sie durch SA- und SS-Hilfstruppen. Gleichzeitig wurden systematisch führende „Weimarer“ Polizeibeamte durch Nationalsozialisten ersetzt. Am 24. Februar schließlich wurden bei einer Durchsuchung des Karl-Liebknecht-Hauses der KPD angeblich Aufstandspläne entdeckt – unter anderem Pläne zur Inbrandsetzung öffentlicher Gebäude, wie Göring später verkünden ließ. Trotz großpuriger Ankündigung an die Presse wurden die Funde freilich nie vorgelegt. In einer Notiz, die sich in den Originalakten findet, gab Görings Pressereferent Martin H. Sommerfeldt zu, daß die Nazis gar nichts in der Hand hatten. Kurz vor der Vernehmung Görings im Reichstagsbrandprozeß schrieb Sommerfeld, es sei „nicht ganz unbedenklich“, die Frage eines Richters oder Verteidigers zu beantworten, „auf Grund welchen Materials mitgeteilt sei, [...] daß alle öffentlichen Gebäude in Brand gesteckt werden sollten“. Sommerfeldt entlastete schließlich seinen Chef, indem er persönlich die Verantwortung für die Pressekommuniqués übernahm.

Sommerfeldt, der 1937 nach England flüchtete, hat übrigens in seinem 1949 veröffentlichten Buch „Ich war dabei“ keinen Hehl aus seiner Überzeugung gemacht, daß für ihn nur die Nazis als Brandstifter in Frage kommen. In einem Schreiben an Dr. Richard Wolff, der sich seinerzeit um die Aufklärung des Reichstagsbrandes bemühte, berichtete Sommerfeldt sogar, von dem SA-Führer Karl Ernst persönlich erfahren zu haben, daß der Reichstagsbrand auf Veranlassung von Goebbels von einer Gruppe von SA-Männern inszeniert worden sei. Die Männer dieser SA-Gruppe seien kurze Zeit darauf durch ein SS-Kommando in der Nähe Berlins erschossen worden. Sommerfeldt wörtlich: „Man sprach von zehn Mann, und die Aufklärung dieses Mordes oblag der Geheimen Staatspolizei.“