„Fishtown ist irgendwie dunkel“

■ Bremerhaven: Eine Stadt am Ende? Jeder Vierte ist arbeitslos, und der Ocean-Park wird zum Synonym für Hoffnung Von Kerstin Schneider

in Zeichen? Die Uhr am Bahnhof in Bremerhaven-Lehe ist stehengeblieben. Vier Minuten vor eins hat die Stunde geschlagen. Die Scheibe der Turmuhr, die über der Bahnhofshalle thront, ist eingeschlagen und trüb. Nur die Uhren auf dem Bahnsteig ticken richtig. Zwölf Uhr dreißig. Eine graue Wolkendecke drückt auf die Stadt und läßt die tristen Mietskasernen noch trostloser aussehen. Unweigerlich kommt dem Besucher der Titel eines Buches über Bremerhaven in den Sinn: „Fishtown ist irgendwie dunkel“.

Auch auf dem Arbeitsmarkt sieht es düster aus: Fast jeder vierte Bremerhavener im erwerbsfähigen Alter ist arbeitslos, knapp ein Drittel davon ist auf Sozialhilfe angewiesen. Allein im Januar haben sich 2.634 Männer und Frauen beim Arbeitsamt gemeldet, die ihren Job verloren haben. Bei einer Arbeitslosenquote von 22,4 Prozent liegt Bremerhaven mit seinen 130.000 Einwohnern an der Spitze aller westdeutschen Städte. Durch den Vulkan-Konkurs sind in Bremerhaven bei den Werften und den Zulieferbetrieben nach vorsichtigen Schätzungen rund 6.000 Menschen arbeitslos geworden.

Der „Ocean-Park“ist für viele Bremerhavener deshalb zum Synonym für Hoffnung geworden. Für den maritimen Vergnügungspark, der die Touristen an den Deich spülen und 500 Arbeitsplätze schaffen soll, heben die Stadtverordneten mittlerweile fast geschlossen die Hände. Rund 1,8 Milliarden Mark sollen der Ocean-Park in Bremerhaven und der Space-Park in Bremen kosten. Davon soll das Land 920 Millionen bezahlen. Eine Rechnung, die nicht aufgeht, meint Bremens Wirtschaftssenator Josef Hattig (CDU). „Wenn ich heute entscheiden müßte, würde ich nein sagen.“Das kaufmännische Risiko sei zu groß, sagte der ehemalige Manager der Becks Brauerei Anfang Februar. Seitdem ist man in Bremerhaven nicht mehr gut auf ihn zu sprechen.

„Titanic – auf Kollisionskurs mit dem Schicksal – täglich von 15 bis 19 Uhr“, wirbt das „Aladin“am Rande des Rotlichtmilieus für den Film. Im „Atlantis“schräg gegenüber läuft „Nix zu verlieren“. Einen Moment länger als gewöhnlich bleibt der Blick an der Kinowerbung hängen. Eine Thailänderin im knappen Bikini, sitzt in einem Schaufenster und lackiert sich die Fußnägel metallic-blau. Auf dem Bürgersteig vor ihrem Fenster liegt eine umgekippte Mülltonne. Der Wind jagt Altpapier und leere Plastiktüten über das Kopfsteinpflaster.

ittags ist nicht viel los im Rotlichtviertel. Die meisten Fenster sind leer. Vor dem eisigen Wind nur notdürftig geschützt, steht eine Frau mit rotem Kirschmund in einem Hauseingang. „Schlecht“, antwortet sie auf die Frage, wie das Geschäft läuft. „Die Arbeitslosikgkeit. Und die Ausländerinnen. Die drücken die Preise. Vor vier, fünf Jahren lief es noch besser“, sagt sie und zieht den Kragen ihrer schweren Lederjacke hoch. Ob sie glaubt, daß der „Ocean-Park“wieder mehr Freier ins Rotlichtviertel lockt? „Keine Ahnung. Das muß ich erstmal abwarten“, antwortet die Frau und läßt ihren Blick über die schäbige Rückseite einer Häuserschlucht gleiten. Die Farbe an den Hauswänden ist brüchig und abgeplatzt. Auf den Balkonen flattert die Wäsche im Wind. „Bremerhaven ist eine schmutzige Stadt, und sie ist häßlich“, sagt ein junger Held in „Fishtown ist irgendwie dunkel“. Mit seinen Häusern aus den späten Gründerjahren, die teilweise Wand an Wand mit modernen Kastenbauten mit Plastikverkleidung stehen, den Genossenschaftswohnungen aus der Zeit nach dem ersten Weltkrieg und dem sozialen Wohnungsbau aus den 70erJahren, wirkt Bremerhaven wie ein lieblos entworfener architektonischer Flickenteppich. Die Stadt ist jung. Als „Antwort Bremens auf die schwerste Bedrohung, die es jemals in seiner Geschichte erlebt hat“wurde Bremerhaven vor rund 170 Jahren gegründet. Damals versuchte Oldenburg Bremen die Stellung als Welthandelsplatz streitig zu machen. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Seestadt fast vollständig zerstört. 1.142 Menschen wurden durch Luftangriffe getötet, knapp 35.000 mußten evakuiert werden. Etwa 12.000 Wohnungen lagen in Trümmern. Ein Geschichtsbuch faßt das Ausmaß der Zerstörung in nüchterne Zahlen: „Der Zerstörungsgrad der Innenstadt betrug am Kriegsende 97 Prozent“. Das übrige Stadtgebiet war zu 56 Prozent zerstört.

Vor der „Strandlust“, einem Nobelrestaurant am Deich mit Blick auf das Wasser, strotzt am Nachmittag eine dicht zusammengerückte Menschenmenge in langen Wollmänteln und dicken Anoraks dem Wind. Der NDR zeichnet eine Fernsehdiskussion über den Ocean-Park auf. Das grelle Scheinwerferlicht kann Ocean-Park-Planer Jürg Köllmann, Oberbürgermeister Manfred Richter (FDP), Wirtschaftssenator Josef Hattig (CDU) und Manfred Ernst, Sprecher der Bürgerinitiative „Bremerhaven – ja, Ocean-Park nein danke“, nichts anhaben. Die Maskenbildnerin hat den Herren soviel Make-up ins Gesicht geschmiert, daß sie aussehen als kämen sie gerade aus dem sonnigen Süden.

Wirtschaftssenator Josef Hattig wählt seine Worte mit Bedacht. „Gerade weil ich für das Projekt bin, versuche ich sehr sorgfältig nachzudenken“, sagt er. Eisiges Schweigen. „Ich bin zuversichtlich“, beeilt er sich zu versichern. Die Menschen lauschen den Worten des Wirtschaftssenators mit versteinerten Mienen. In der Ferne dröhnt ein Nebelhorn. „Bremerhaven hat mehr zu bieten als eine Scheinwelt“, sagt Ernst. Einige Zuschauer schütteln den Kopf. Ocean-Planer Jürg Köllmann ist an der Reihe. „Ich bin ganz sicher, daß der Ocean-Park realisiert wird“, lächelt er in in die Kamera. „Aus dieser Region ist viel zu machen.“„Bravo, bravo“, rufen die Zuschauer und klatschen in die Hände. Die Fernsehdiskussion wird durch ein kurzes Portrait über die Stadt unterbrochen. „Bremerhaven: Eine Stadt am Ende. Letzter Ausweg Ocean-Park?“sagt ein Sprecher. Die Menge schweigt. Die Kamera zeigt sanierungsbedürftige Häuser in Bremerhaven-Lehe. „Häuser zerfallen an allen Ecken und Enden“, tönt es aus den Lautsprechern. Gelächter. Nach dem Film ergreift Oberbürgermeister Richter das Wort. „Solche Häuser sehen Sie auch in Frankfurt oder Berlin“, verteidigt er seine Stadt.

er Wind heult. Das Wasser, eine gelb-braune Brühe, peitscht ans steinige Ufer. Der Nebel versperrt den Blick über die Weser. Wie ein Mahnmal städtebaulicher Todsünden ragt linker Hand das Columbus-Center in den Himmel. Die drei mächtigen Hochhausblöcke, die in den 70er Jahren gebaut wurden und in denen Wohnungen, Geschäfte und Kneipen untergebracht sind, schneiden die Stadt vom Wasser ab. In unzähligen Ideenwettbewerben haben sich Architekten schon die Köpfe darüber zerbrochen, wie Stadt und Fluß wieder vereint werden könnten. Sogar eine 500 Meter lange Brücke, die die ansteigende Deichline fortsetzen sollte, damit die Touristen wieder aufs Wasser gucken können, war im Gespräch.

In den Geschäften des Columbus-Centers herrscht reges Treiben. Auch die Kneipen sind gut besucht. In der Schiffergilde sitzt der 54jährige Peter V. an der Theke und blickt gedankenverloren in sein Bier. 27 Jahre war er als kaufmännischer Angestellter bei der Schichau-Seebeckwerft beschäftigt – bevor er 1996 seinen Job verlor. Die Fernsehdiskussion am Deich hat ihn nicht überzeugt. „Früher haben wir uns auf den Schiffbau verlassen, und jetzt wollen wir uns vom Ocean-Park abhängig machen. Die Stadt setzt von einer Monostruktur auf die nächste. Das kann nicht gutgehen“, sagt er. „Das ist doch wieder typisch“, widerspricht sein Nebenmann, der 42jährige Kfz-Mechaniker Wolfgang Paul. „Dieser Stadt geht es nur so schlecht, weil alle so negativ denken wie du. Man muß doch auch mal träumen können. Mach' doch n' Kiosk im Ocean-Park auf.“Peter V. schüttelt den Kopf. „Du hast gut reden. Ich habe nach 27 Jahren meinen Job verloren. In meinem Alter was neues zu finden, ist aussichtslos. Ich hab' das Träumen aufgegeben.“

Die „Alte Bürger“, eine Kneipenmeile am anderen Ende der Straße wirkt im Gegensatz zum Columbus-Center und der Fußgängerzone wie ausgestorben, und zwar nicht nur, weil die meisten Lokale nachmittags noch geschlossen sind. In verwaisten Schaufenstern klebt vergilbtes Zeitungspapier. Weiße Farbe schützt leere Ladenlokale vor neugierigen Blicken. Streckenweise steht fast jeder zweite Laden leer. Die „Neustadtschänke“, am Rande der „Alten Bürger“gehört zu den ältesten Kneipen. In 40 Jahren hat der Besitzer nur drei mal gewechselt. Die Wände der Kneipe sind mit Werder-Postern und Wimpeln übersät. Von der Decke baumeln Silvester-Girlanden und Luftballons. Über der schweren Zapfanlage aus Marmor hängt eine Schiffsglocke. „Titanic 1912“ist am unteren Rand eingeprägt. Doch in der Neustadtschänke herrscht keine Untergangsstimmung. Im Gegenteil. Wirtin Ulla Lichtwark will investieren. Eine neue Theke muß her. Die kleine Frau mit dem blonden Kurzhaarschopf und einem warmen Lächeln verhandelt mit dem Handwerker. Der mächtige Zapfhahn soll weg und durch einen kleineren ersetzt werden. „Wir sind jetzt schon bald 20 Jahre hier“, sagt Ulla Lichtwark. „Aber wenn wir unsere Stammkundschaft nicht hätten, wären wir schon lange weg vom Fenster.“Ihr Lebensgefährte Jürgen Friedrichs nickt. Ob der Ocean-Park kommt oder nicht, ist für die Wirtsleute ohne Belang. „Wenn er kommt, ist es gut für Bremerhaven. Für uns bringt er nichts. Dafür sind wir hier zu weit weg.“

Auch in der „Grünen Bude“, die den Anspruch erhebt, Bremerhavens älteste Kneipe zu sein, ist der „Ocean-Park“an diesem Abend Gesprächsthema. „Das ist das Ding für Bremerhaven“, sagt ein Mann an der Theke. Sein ölverschmierter Overall läßt darauf schließen, daß er noch Arbeit hat. Die Luft in der Kneipe, die tatsächlich nicht mehr ist als eine grün angestrichene Bretterbude, ist so verqualmt, daß die Augen brennen. Das Licht ist schummrig und wird durch die niedrige Decke und das Mahagoni-Imitat geschluckt. „So ganz blickt man da ja nicht hinter“, schiebt der Blaumann hinterher und lehnt sich zu seinem Nachbarn hinüber. „Mit der Finanzierung, das ist angeblich doch noch nicht klar. Aber was soll man denn hier noch machen. Am Container-Terminal boomt das wie verrückt. Aber das geht ja alles automatisch und bringt keine Arbeitsplätze.“Der Nachbar nickt in sein Bierglas: „Der Ocean-Park ist unsere einzige Chance.“

Ein Satz, der Stunden später wie ein unsichtbares Transparent über dem Podium der SPD Unterbezirksversammlung zu hängen scheint. UB-Vorsitzende Hilde Adolf redet sich in Rage. „Der Wirtschaftssenator muß sich fragen lassen, ob er seine neue Rolle richtig verinnerlicht hat. Er ist kein Wirtschaftsboß mehr, der nur an Rendite denken darf, sondern ein Politiker, der Arbeitsplätze schaffen muß.“Adolf will die SPD in Bremerhaven wieder auf Vordermann bringen. Bei der letzten Wahl im September 1995 haben die Sozialdemokraten, die 40 Jahre lang die Stadt allein regierten, zehn Prozent ihrer Stimmen und die Mehrheit an die CDU verloren. Nur jeder zweite Bremerhavener ging an die Wahlurne. 27,9 Prozent wählten SPD. Die neugegründete Wählerinitiative „Arbeit für Bremerhaven“schaffte auf Anhieb die Fünf-Prozent-Hürde.

In Bremen gebe es Stimmen, die sich schon ausrechneten, was man mit den Geld alles machen könnte, wenn der Ocean-Park nicht gebaut werde, sagt Adolf. „Aber wir werden die 250 Millionen Mark aus dem Investitions-Sonderprogramm auf jeden Fall abfordern“, fügt sie hinzu und wirft Bremens Bürgermeister Henning Scherf (SPD) einen vielsagenden Blick zu. Bremerhaven ist auch in anderer Hinsicht von Bremen abhängig. 1993 hat das Land die Schulden Bremerhavens von 828 Millionen Mark übernommen. Scherf steht auf und verteidigt Hattig. „Ich bin heilfroh, daß wir so einen Wirtschaftssenator haben“, bekennt er und lobt Hattigs „unternehmerische Kompetenz.„Ich bin immer überzeugter, daß Ocean-und Space-Park die richtige Antwort auf die große Krise auf dem Beschäftigungsmarkt sind“, sagt Scherf weiter. Die Genossen klatschen. Ihre Mienen entspannen sich.

„Nach Bremen wollen Sie? Na, wenn das nicht schon zu spät ist“, sagt der Taxifahrer, ein sympathischer Mann, der fortwährend lächelt. Ein waschechter Bremerhavener. Nach der Hauptschule hat er eine Lehre als Schiffbauer auf der Schichau-Seebeckwerft gemacht. Abitur im Abendgymnasium, danach das Schiffbau-Studium. Umweltschutzbeauftragter bei Schichau war er – bis 1996. Seitdem fährt er Taxi. Daran, daß er noch mal einen Job findet, glaubt er nicht. „Neulich hat man mir geschrieben, meine Bewerbung sei interessant, aber sie suchten jemanden Mitte 30. Peng, das war's“, sagt er und schlägt mit der flachen Hand kurz auf das Lenkrad. „Ocean-Park? Na klar, welche Chance haben wir denn sonst noch?“fragt er zurück und hält vor der Bahnhofshalle. Es ist schon spät. Fünf vor zwölf. Der Bahnhof ist menschenleer. Das hallen der Schritte klingt fast gespenstisch. Und der Blick auf den Fahrplan verrät: Der letzte Zug nach Bremen ist schon lange abgefahren.

„Fishtown ist irgendwie dunkel“von Hans Happel und Heiko Sandelmann