Kopf hoch, Nagano!

Olympia war längst nicht so schlecht wie das Wetter – und manche behaupten. Es geriet immerhin nicht zur Seifenoper  ■ Von Matti Lieske

Nagano (taz) – Eins muß man den Olympischen Spielen lassen: Auf sie ist Verlaß. Folgsam produzieren sie jene Heldengeschichten und Dramen, die im Gedächtnis der Menschen haften bleiben und Olympia seine Besonderheit verleihen. Das fliegende Maier-Monster, das dann doch noch seine zwei Goldmedaillen gewinnt; der wimmernde Harada, der binnen einer Stunde vom Volkstrottel zum japanischen Messias aufsteigt; der kiffende Snowboarder Ross Rebagliati, der dafür sorgt, daß inzwischen sogar Juan Antonio Samaranch weiß, was ein Joint ist; der sabbernde Norweger Björn Dählie, der nicht genug bekommen kann vom olympischen Gold; die Eishockeyfrauen, die unverhoffterweise für mehr Gesprächsstoff sorgen als ihre berühmten Kollegen aus der NHL.

Dazu speziell für die Deutschen: das (wahrscheinlich) letzte olympische Rasen der ehemaligen Weißwurst, das Ende des Muffelns von Katja Seizinger, die sich jetzt nur noch ganz leise über die diskriminierenden Bedingungen zu jammern getraut, die besondere Kurventechnik der Eisbärenfreundin Franziska Schenk.

Doch, ja, Nagano hatte einiges zu bieten, wenn auch nicht die ganz große Geschichte, für die Wayne Gretzky, Kanadier und bester Eishockeyspieler aller Zeiten, vorgesehen war. Der tat, was er immer tut: Er gab ein paar großartige Vorlagen. Gestern aber schlich er geschlagen und hängenden Kopfes vom Eis. So rundet eben keine olympische Goldmedaille seine Karriere ab, was er leichter verschmerzen wird als die, die sich eine große Seifenoper erhofften.

Das ist deren Problem, nicht das Naganos. Aus Sicht des US-amerikanischen Senders CBS wurde auch Elvis Stojko leider nicht von Candeloro mit dem Degen gepiekt, sondern hatte nur „eine brutale Grippe“. Auch Michelle Kwan und Tara Lipinski ließen gestern die Eisenstangen ruhen. Der Versuch der US-Eishockeyspieler, nach ihrem Ausscheiden ein wenig „Melrose Place“-Ambiente ins Olympische Dorf zu bringen, konnte nicht wettmachen, daß nur 1,2 Millionen ihr Match gegen Kanada sehen wollten. CBS verzeichnet die niedrigsten Ratings seit 1968 und ist froh, daß in Salt Lake City Konkurrent NBC übernimmt.

Womit wir beim Thema wären. Brauchen wir Spiele in Salt Lake City, und wenn ja, was für welche? Das Gezeter und Gejammer in Nagano, hat gezeigt, wie schwierig es auch im Winter geworden ist, geeignete Austragungsorte für Olympia zu finden. Das Wetter ist eine stete Quelle des Ärgers, aber bei Sportarten, die von bestimmten Bedingungen abhängen, ist dies unvermeidbar. Wenn man nicht will, daß die Winterspiele ständig in Innsbruck und Lillehammer stattfinden oder gar ganz abgeschafft werden, was irgendwie schade wäre, ist es nur gerecht, daß sie auch mal nach Japan kommen, selbst wenn das Wetter dort besonders unberechenbar ist.

Nebenbei handelt es sich um den größten Markt für Wintersportprodukte, und da die Industrie bekanntlich einen gewissen Einfluß auf Entscheidungen des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) nimmt, wird das wetterwendische Land irgendwann wieder an der Reihe sein.

Zumal Nagano seine Sache nicht schlecht gemacht hat. Die Organisation und auch der Transport klappten weit besser als in Atlanta, allerdings sind die Winterspiele auch längst noch nicht so aufgebläht wie jene im Sommer. Gerade mal knapp 2.500 Aktive waren es, die von rund 8.000 Journalisten beäugt wurden. Ein Mißverhältnis, welches dazu führt, daß an manchen Tagen buchstäblich nichts los ist.

„Wir brauchen mehr Sportarten“, hat auch IOC-Präsident Samaranch gemerkt, und man muß ihm bei aller Kritik zugestehen, daß er weit besser als die meisten Funktionäre in den internationalen und nationalen Einzelsportverbänden begreift, wie man eine Sportbewegung lebendig erhält, auch wenn vorwiegend geschäftliche Gründe hinter seinen Bestrebungen stecken. Mehr Frauen, mehr junge Sportarten, lautet seine Devise, und in Nagano war es offensichtlich, daß gerade Frauen- Eishockey, Short Track, Freestyle und das vom Weltskiverband FIS lange bekämpfte Snowboarding den Spielen zusätzliche Attraktivität verliehen. In Salt Lake City werden die Frauen wohl auch skispringen und bobfahren. Skeleton steht an der Schwelle zur olympischen Sportart, bloß das etwas betuliche Curling scheint gefährdet. Ein guter Rat: Schafft das alberne Schrubben ab, schon seid ihr auf ewig dabei. Die Frage ist, ob die Natur dies alles verkraftet. Auf keinen Fall, sagt Herr Izawa, der aktivste Olympiagegner von Nagano, der beharrlich und zu Recht dagegen klagt, daß die Abfahrt einige Meter durch ein Naturschutzgebiet führte, auch wenn dies mit einem Sprung überbrückt wurde. Immerhin hatte man die Biathlonstrecke verlegt, weil der zunächst vorgesehene Bereich seltene Pflanzen und Tiere beherbergt, die Bob- und Rodelbahn wurde mit Sole statt mit Ammoniak gekühlt. Die Organisatoren versprechen, für die olympiabedingt abgeholzten Bäume eine weit größere Zahl anzupflanzen.

Im Gegensatz zu Albertville oder Lillehammer gibt es in einer großen Stadt wie Nagano Bedarf für die neu errichteten Hallen Big Hat, M-Wave, Aqua Wing und White Ring. Trotz Superzuges und des Baus einiger Schnellstraßen in die Berge wurde weit mehr auf umweltverträgliche Planung geachtet als im kleinen Lillehammer. Dafür fehlte in Nagano vielen das olympische Flair, für das die Norweger so gelobt worden waren. Ähnlich wie 1992 in Albertville wohnten viele Athleten weit weg vom Olympischen Dorf in der Nähe ihrer Wettkampfstätten. Für Curlingspieler, Biathleten, Snowboarder, Alpine Skifahrer, Langläufer war Olympia kaum anders als jede WM.

Aber auch in der Stadt selbst waren die Bedingungen nicht ideal. Zu weit die Wege, zu schwierig die Verständigung, wie die Eisschnelläuferin Franziska Schenk beklagte. Blieb das Olympische Dorf, wo es von der Kontaktfreude des Individuums und dem Zusammenhalt des jeweiligen Teams abhing, ob sich das ominöse olympische Flair entfaltete. Catriona LeMay Doan zum Beispiel kam aus dem Schwärmen kaum heraus. „Ein großartiges Erlebnis“, urteilte die Eisschnelläuferin über Nagano 1998, und dies nicht nur wegen ihrer beiden Medaillen.

In Salt Lake City 2002 wird vieles anders und besser werden, lautet die allgemeine Hoffnung: schöneres Wetter, kürzere Wege, mehr Enthusiasmus beim Publikum. Aber olympisches Flair in der tristen Mormonenstadt? Fehlt bloß noch, daß sich der Vatikan um die Sommerspiele 2008 bewirbt.