■ Ökolumne
: Kühle Rechner? Von Henrik Paulitz

Die Renaissance der Atomenergie hat begonnen. Nur merkt es niemand. Im Windschatten einer Diskussion um die hohen Kosten eines neuen Atommeilers in Deutschland und einer sich verfestigenden Überzeugung vom Ende des Atomstroms baut Siemens fleißig Atomkraftwerke.

In Garching bei München baut Siemens einen neuen Forschungsreaktor mit waffenfähigem Uran. Im slowakischen Mochovce beteiligt sich Siemens an der Fertigstellung von zwei Atomkraftwerksblöcken. Nach demselben Strickmuster verhandelt Siemens intensiv über die Fertigstellung von drei WWER-1000-Reaktoren an den Standorten Rowno, Kmelnitzki (beide Ukraine) und Kalinin (Rußland). Gemeinsam mit der russischen Atomwirtschaft entwickelt Siemens einen neuen Reaktortyp WWER-640, dessen Prototyp in Sosnovy Bor bei St. Petersburg errichtet werden soll.

Allen laufenden oder geplanten Bauprojekten ist eines gemeinsam: Sie müssen vollständig oder zu erheblichen Teilen mit öffentlichen Geldern finanziert werden. Und der Fall Mochovce zeigt, daß Siemens über die Beharrlichkeit und den Einfluß verfügt, um die benötigten Staatsgelder zu mobilisieren. Es dürfte also nur noch eine Frage der Zeit sein, bis Siemens in Rußland ein nagelneues Atomkraftwerk errichtet. Es geht in Osteuropa schon lange nicht mehr nur um „sicherheitstechnische Nachrüstungen“. Es geht um neue Atomanlagen, die zusätzlichen Atommüll produzieren und zusätzliche Sicherheitsrisiken verursachen.

Siemens setzt dogmatisch auf die weitere Durchsetzung der Atomenergie. Auch wenn die nackten Zahlen überhaupt nicht für den Atomkurs sprechen. Nach Aussage von Siemens/KWU-Chef Adolf Hüttl ist der Nuklearbereich zwar profitabel, doch ist auf absehbare Zeit mit einem Umsatzwachstum aufgrund des Preisverfalls auf dem Kraftwerksmarkt nicht zu rechnen. Die Sparte stellt sich auf eine Schrumpfphase ein und versucht sich durch äußeres Wachstum zu behaupten: etwa durch die Fusion mit dem Brennelementegeschäft von BNFL und möglicherweise auch durch die Übernahme des Nukleargeschäfts vom US-Hersteller Westinghouse. Eine langfristige Wachstumsperspektive wie beispielsweise die Informationstechnik stellt die Atomtechnologie für ein Unternehmen wie Siemens jedenfalls nicht dar.

Doch es sind eben keineswegs immer die kühlen Rechner in den Konzernzentralen, die die Atompolitik in Deutschland bestimmen, sondern häufig genug die Chefideologen, deren Karriere in der Atomsparte begann. Sie kämpfen verbissen um jedes x-beliebige Atomprojekt in Ost und West – Hauptsache, es kommt Atomstrom hinten raus.

Wer möchte da ausschließen, daß auch in Deutschland wieder ein Großmeiler gebaut wird, sobald der liberalisierte Energiemarkt in Europa neu geordnet ist? Dann werden die Strompreise wieder steigen und die Energieoligopole wieder viel Geld für teure Kraftwerksprojekte übrig haben. Derzeit benötigen die deutschen Energiekonzerne ihre hohe Liquidität für den Aufkauf möglichst vieler Energieversorger in Europa. Doch wer glaubt denn, daß sich in der Energiewirtschaft neuerdings die kühlen Rechner mit ihren billigen Gaskraftwerken gegen die kühlen Strategen durchsetzen, die neben den Kosten einzelner Kraftwerkstypen auch die Risikostreuung beim Rohstoffbezug und die wechselseitigen Abhängigkeiten großer Unternehmensgruppen berücksichtigen müssen? Die Siemens AG, die gemeinsam mit den befreundeten Großbanken nicht ohne Einfluß auf die Energieversorger ist, wird alles daransetzen, daß der Europäische Druckwasserreaktor (EPR) kein Papiertiger bleibt.

Nehmen wir also die Atompolitik selbst in die Hand. Mit dem Boykott von Siemens-Produkten können wir dem Atomkonzern Paroli bieten – egal, ob er in Biblis, in Hanau, in Mochovce oder bei St. Petersburg sein Unwesen treibt. Boykottiert wird übrigens nicht nur in Deutschland: Vor Weihnachten mobilisierten im russischen Kaliningrad Umweltschutzgruppen mit Tausenden von Flugblättern zum Boykott von Osram-Lampen und Siemens-Nixdorf-Computern.

Infopaket zum Siemens-Boykott (inkl. neuer Hintergrundbroschüre) gegen zehn Mark bei IPPNW, Körtestraße 10, 10967 Berlin erhältlich.