Gebär-Mütter und Cyber-Bitches, Sex ohne Schwangerschaft und Schwangerschaft ohne Sex: Was wird nur aus der Libido? Ein Kongreß von 800 PsychologInnen in Berlin fand viele Antworten. Eine lautete: Männer sind Schädlingsbekämpfungsmittel Von Ute Scheub

Geil wie Löwenzahn

Der Trieb treibt neue, ungeahnte Blüten. Aber existiert er denn überhaupt, der menschliche Sexualtrieb? Die Blüten jedenfalls: Cybersex, Sex ohne Anfassen, Erotik in postfamiliären Familien. Unterstützt von frühlingskündenden Primelsträußchen auf den Redepulten der Freien Universität Berlin, widmeten sich die ReferentInnen des alle zwei Jahre stattfindenden Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT) unter anderem diesen neuesten Auswüchsen des Begehrens. Motto des fünftägigen, von rund 800 TeilnehmerInnen besuchten Kongresses: „Lust und Last“. Man wolle die Ambivalenzen ergründen, die Last mit der Lust und die Lust auf die Last, begründete DGVT-Vorstandsmitglied Frank Nestmann den Titel. Gemeint war in den 48 Themenblöcken jedoch keineswegs nur die Sexualität, sondern auch Lust und Last mit Kindern, Alter, Arbeit, Freizeit, Konsum und Gesundheit.

Doch war bei mehreren ReferentInnen die produktive Unruhe zu spüren, die die Möglichkeiten der neuen Biotechnologien – von Klonschaf Dolly bis zum perfekten Baby – im Hinblick auf das Thema Sexualität auslösen. Sex ohne Schwangerschaft: Das war in den 60er Jahren die erste sexuelle Revolution, möglich geworden durch massenhaftes Schlucken der Pille. Schwangerschaft ohne Sex durch In-vitro-Fertilisation und vielleicht auch bald gentechnische Reproduktion: Das ist die zweite sexuelle Revolution, die diesen Namen eigentlich gar nicht verdient, denn sie katapuliert ja gerade die Sexualität aus dem jahrtausendealten Zusammenhang zwischen Lust, Fortpflanzung und Geschlechterrollen hinaus.

Die Berliner Soziologin Barbara Ossege entwarf vier bitterböse Szenarien für zukünftige Frauenrollen: Da wäre, erstens, die Gebär-Mutter, die sich als lebendes oder – wie bei der Erlanger Koma-Schwangeren von 1992 – halbtotes medizinisch-technisches Labor für einen heranwachsenden Fötus zur Verfügung stellt. Da wäre die Erfolgsfrau; sie „liefert in jungen Jahren ihre Eier zum Einfrieren ab. Ihre ganze Energie und Konzentration richtet sie dann auf ihre Karriere in der Männerwelt. Wann immer sie die Erfüllung der Mutterrolle anstrebt, und sei es im großmütterlichen Pensionsalter, holt sie sich ein aufgetautes und inzwischen befruchtetes Ei ab.“ Da wäre, drittens, die Techno-Bitch: „Im Technologiezeitalter kann der hemmungslose Überschuß an Lust und Leidenschaft in der Simulation ausgetobt werden. Die Mittel heißen Telefon-, Computer- oder Cybersex. Diese neuen Variationen verhelfen zu sinnlichen Eindrücken ohne körperliche Berührungen, womit das Safer-Sex-Programm reell virusfrei läuft.“ Und wer das alles nicht aushält, könne, viertens, immer noch der „kleinen Rachegöttin“ Lorena Bobbitt nacheifern, die 1993 ihrem schlafenden Mann den Penis abschnitt.

Der Hamburger Sexualwissenschaftler Gunter Schmidt, von derlei weiblichen Identitätszweifeln freigestellt, mahnte indes, das alles bloß nicht so moralisch zu sehen. Telefonsex, Cybersex, Designersex in der Technokultur – das seien doch „phantasievolle Antworten“ auf die Arbeitslosigkeit. Der postmoderne Gebrauch der Sexualität, zitierte er den Philosophen Zygmunt Bauman, verlange „Unabhängigkeit jenseits von Liebe und Fortpflanzung“ und trage seinen „Sinn und Zweck nur in sich“. Die Folge sei eine „heillose Vielfalt“, nicht nur bei Homo-, Bi- und Heteropaaren, sondern auch in den „postfamiliären Familien“, in den Kinder verschiedener Eltern und Eltern verschiedener Kinder zusammenleben.

Die Bielefelder Psychologieprofessorin Christiane Schmerl durchbrach dieses idyllische Bild. „Wozu brauchen wir überhaupt Sexualität?“ und vor allem „männliche Heterosexualität?“, fragte sie sarkastisch in ihrem Eingangsvortrag „Phallus im Wonderland“. „Klonen ist sicherer, schneller und einfacher. Natürliches Klonen ist seit Jahrmillionen erprobt, liefert zufriedenstellende Resultate und wird auch heute von zirka 15.000 Arten auf unserer Erde betrieben, darunter Löwenzahn oder so hochentwickelte Tiere wie Renneidechsen.“ Sex jedoch sei gefährlich und bei der Umweltanpassung keineswegs immer von genetischem Vorteil: „Streitende Walrösser walzen im Kampfeifer ihren eigenen Nachwuchs platt, und junge Männchen von Homo sapiens treiben ihr Imponiergehabe so weit, bis sie ihren Golf GTI gegen Alleenbäume fahren.“ Dem Klonen überlegen sei die sexuelle Reproduktion nur dann, „wenn Parasiten, Pilze und Viren an genetisch mangelhaft kopierten, daher nicht mehr so resistenten Reproduktionen schmarotzen“. Ihre messerscharfe Schlußfolgerung: „Männliche Heterosexualität als Schädlingsbekämpfungsmittel! Darauf wäre selbst der Feminismus nicht gekommen, aber er sollte dankbar sein für diese Erkenntnis, wenn einmal im Jahr die Motten an die Pullover oder die Masern an den Nachwuchs gehen.“

Mit ironischem Lächeln kappte die Psychologin auch noch eine zweite Blüte der Männlichkeit: Es gebe keinen Sexualtrieb im Sinne eines angeborenen Instinkts, die menschliche Sexualität, die traditionell mit der männlichen gleichgesetzt würde, sei durch und durch kulturell geformt. In Zeitungen, Filmen, Literatur, in Ehehandbüchern und Sexualtherapien, überall würden Männer dazu ermuntert, Frauen zu begehren, und Frauen ermuntert, von Männern begehrt zu werden.

Nicht die Arbeit, nicht die Sprache, nicht das Bewußtsein, nein, der Sex unterscheidet uns also von den Tieren, dämmerte es dem Publikum. Das Tierischste in uns ist also das Menschlichste. Die klassische männliche Sexualität, schlußfolgerte die Psychologin, „brauchen wir tatsächlich nicht“. Das aber, was danach kommt, „könnte eine interessante Bereicherung des Abenteuerspielplatzes Erwachsensein bedeuten.“