: Karneval der Beliebigkeit
In Rio de Janeiro tanzen die Sambaschulen zwischen Politik, Kommerz und Karnevalstradition. Eine der berühmtesten unter ihnen, Mangueira, wählte sich dieses Jahr den linken Komponisten Chico Buarque als Thema. Die Verhältnisse tanzen auf den Straßen ■ Von Patricia Sholl
Der Vorkarneval in Rio de Janeiro, die Umzüge und Straßenfeste an der Copacabana und im anliegenden noblen Strandstadtteil Ipanema, sie waren dieses Jahr so schillernd und bunt wie selten. Auch Mangueira, die traditionsreiche Sambaschule des gleichnamigen Bezirks im ärmlichen Norden Rios, zeigte mit Lautsprecherwagen und ein paar hundert Karnevalisten Flagge in der touristischen Zona Sul der Mittel- und Oberschicht. Nicht allein der Touristen wegen: Im Süden der Siebenmillionenstadt wohnen wichtige Sponsoren, vor allem aber Chico Buarque, der Star des diesjährigen Mangueira-Karnevals.
Jede der über 50 lokalen „Escolas“ wählt sich für den Karneval ein anderes Motto oder Thema, das sowohl im Text ihres „Samba Enredo“ als auch in den verschiedenen Formationen oder Flügeln des Karnevalszuges zum Ausdruck kommt. Immer geht es dabei um Brasilianisches: Geschichte, große Künstler der Vergangenheit oder Gegenwart, auch Politik. Während der Diktaturjahre waren ausgesprochen nationalistische Themen Pflicht, heute werden dagegen immer öfter sozialkritische oder ökologische Motive aufgegriffen.
Der Linke Chico Buarque als Thema
Eine Sambaschule wählte sich dieses Jahr etwa den Kommunistenführer Luiz Carlos Prestes als Motto, eine andere würdigte Brasiliens Schwarze, eine dritte Amazoniens Natur. Die traditionsreiche Sambaschule Mangueira jedoch, die vor zwei Jahren bereits das Tropicalisten-Quartett um Gilberto Gil, Maria Bethania, Gal Costa und Caetano Veloso als Karnevalsthema ehrte, kam diesmal auf den 53jährigen Sänger, Komponisten, Roman- und Stückeschreiber Chico Buarque. Keine schlechte Wahl, denn Buarque ist nicht nur zu Hause ein höchst beliebter Künstler, der vielen gar als kreativster Liedermacher der Musica Popular Brasileira gilt. Er hat darüber hinaus auch in Deutschland, Frankreich und Skandinavien einige Freunde. Eigens aus Europa angereiste TV-Teams jedenfalls verstärken nur noch den Medienrummel um die Sambaschule aus Mangueira. Ihre tanzfestartigen Proben, die seit Monaten schon jede Samstagnacht stattfinden, waren schon seit Jahren nicht mehr so rappelvoll wie in dieser Karnevalssaison. Schlägt in der großen Mangueira-eigenen Halle oben auf der Bühne die annähernd 100köpfige Bateria auf ihre Trommeln, Tamburins, Snares und Surdos, dann setzt sich unten auf der Stelle die Menge der über 2.000 Karnevalisten in Bewegung. Alles tanzt, hüpft und singt den diesjährigen Chico-Buarque-Samba mit. Daß der Rio-Karneval ein recht widersprüchliches Kulturphänomen ist, bekommt man allerdings auch bei Mangueira schnell mit: Zur eigenen Sicherheit bevorzugen es viele auswärtige Besucher, mit dem Taxi bis zum Eingang der alteingessenen Sambaschule vorzufahren, die am Fuße des gleichnamigen Hügels liegt.
Denn die rund 800 Favela-Viertel des nach São Paulo zweitwichtigsten wirtschaftlichen Ballungszentrums sind im Grunde rechtsfreie Räume, die von den beiden wichtigsten Verbrechersyndikaten, dem Comando Vermelho (Rotes Kommando) und dem Terceiro Comando (Drittes Kommando) beherrscht werden, die sich auf Entführungen, Drogen- und Waffenhandel sowie Überfälle spezialisieren. Mangueira, von etwa 50.000 Menschen bewohnt, bildet da keine Ausnahme. Wo sich der Staat seiner Verantwortung entzieht, regiert die Mafia – die freilich auch die Organisation des Viertels sichert. Die örtlichen Sambaschulen sind zwar keine Hochburgen der organisierten Kriminalität, aber natürlich ein Teil des Systems. Daß die kulturellen Aktivitäten der Sambaschule von Auseinandersetzungen rivalisierender Gangs betroffen werden, war bisher die Ausnahme. In diesem Januar jedoch brachen in Mangueira erstmals Schießereien während der Samstagnachtprobe direkt vor der Halle aus – ein Tabubruch. Seitdem stehen vor der Sambaschule Posten der Militärpolizei, die für 500 Mark Monatsgehalt ihr Leben riskieren. Doch würde Chico Buarque, der Kulturprominenz oder gar Ausländern etwas zustoßen, wäre dies verheerend für das Image der Sambaschule und damit ganz Rios.
Es sind aber nicht nur die sozialen Realitäten, die ihren Schatten auf den Karneval werfen. Vor allem das Fernsehen macht inzwischen seinen Einfluß auf den größten Festumzug Brasiliens geltend: Im gleichen Maße, wie es mit der Zeit bis in die kleinste brasilianische Hütte vordrang, bemächtigte es sich auch des Karnevals. Weil das Fernsehen Figuren braucht, die aus der wogenden Masse herausragen, erlebte die Sambaparade in den letzten Jahren eine Invasion der Blondinen, Filmstars und Fotomodels. Auf den Allegorienwagen dominieren längst Prominente der Show- und TV-Szene, nicht mehr die Aschenputtel aus den Armensiedlungen, und aus den poetischen, weit langsameren Parade-Sambas wurden immer schnellere, immer frenetischere Märsche – aus dem „Desfile“ der Sambaschulen ein Luxusprodukt à la Hollywood, von Millionen Zuschauern alljährlich zu Hause an den Geräten verfolgt. Daß gerade Brasiliens Fernsehmulti Globo der Sambaschule Mangueira ein kleines Museum spendierte, ist da nur konsequent. Obwohl das Fernsehen inzwischen die Dramaturgie bestimmt, gibt eine TV-Übertragung natürlich nur einen Bruchteil der Atmosphäre wieder. Weswegen es für viele Brasilianer nach wie vor das Größte ist, einmal wenigstens live an der großen Karnevalsparade teilgehabt zu haben.
Und das, obwohl der Ort des Showlaufs, das Sambodrome, mit seinen 50.000 Zuschauer fassenden Tribünen aus Beton wenig einladend ist. Nach dem Machtantritt 1983 ließ Gouverneur Leonel Brizola, Vizepräsident der Sozialistischen Internationale, den Star-Architekten Oscar Niemeyer ohne öffentliche Ausschreibung jene Sambodromo genannte Paradestraße entwerfen und bauen. „Albert Speer würde vor Neid erblassen“, lästerte der Karnevalexperte Evandro Carlos de Andrade. Das Betonmonster wurde in ein Altstadtviertel geklotzt und ist nicht nur ästhetisch, sondern auch funktional fragwürdig – Zuschauer und Paradierende sind weiter als vormals voneinander entfernt, das Lautsprechersystem gigantisch: Alle 15 Meter steht ein Boxenturm wie bei Hardrock-Konzerten, der die elektronisch oft bis zur Schmerzgrenze verstärkte Stimme eines Vorsängers den Massenchor der Defilierenden übertönen läßt.
Eine Bühne für die politische Klasse
Rios Geld- und Politikerelite liebt die Parade nicht zuletzt wegen der vielen Selbstdarstellungsmöglichkeiten. Chico Buarque nennt diese neue Oberschicht „heute kulturloser und ungebildeter als je zuvor“. Andererseits bleibt dem Altlinken, der während der Diktatur einer der meistzensierten und meistverfolgten Künstler war, so wie die Dinge heute liegen, nichts weiter übrig, als den Zustand des Karnevals zu akzeptieren, wie er ist. Das heißt, sich mit dem Führer der sozialistischen Arbeiterpartei PT und Ex-Präsidentschaftskandidaten Lula in die „Alte Garde“ der Mangueira-Musiker und -Karnevalisten einzureihen.
Bei Mangueira defiliert am Rosenmontag nun kurzentschlossen auch die Witwe des Kommunistenführers Luiz Carlos Prestes mit – ihr ging politisch gegen den Strich, daß jene Sambaschule „Grande Rio“, die sich dieses Jahr ihren Mann zum Motto erwählte, ausgerechnet das Playboy-Nacktmodell Debora Rodrigues als Star eines Allegoriewagens plazierte. Letztes Jahr gehörte Rodrigues noch zur verfolgten Landlosenbewegung MST. Doch der brasilianische Playboy baute sie, der politischen Aufregung zuliebe, durch ihren Nacktauftritt im Blatt zum Mediensternchen auf. Als Reaktion verließ Debora Rodrigues die MST, der der Rummel sehr schadete. Heute moderiert sie eine Unterhaltungssendung und dürfte beinahe Millionärin sein. Die Prestes- Witwe ist bei Mangueira allerdings nur bedingt in besserer Gesellschaft als bei Grande Rio, denn dort defiliert auch der Brutalo-TV- Moderator Ratinho, der in seiner Reality-Show schon mal die Todesstrafe für Entführer fordert.
Wer meint, engagierten Künstlern wie Chico Buarque müßte diese politische Beliebigkeit zu öffentlicher Kritik reizen, versteht die Bedeutung des Karnevals für Brasilien nicht. Er ist der kleinste gemeinsame Nenner, der das Land über alle sozialen und politischen Differenzen hinweg eint. Zumindest für ein paar Tage, von Rosenmontag bis Aschermittwoch, tanzen mit den Sambistas auch die Verhältnisse auf der Straße.
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