Wenn Sex die nationale Sicherheit bedroht

Die Duma debattiert über ein Pornographiegesetz. Einigen Abgeordneten geht schon der Text des Entwurfes zu weit, Nationalisten sehen die Unbeflecktheit von Mütterchen Rußland gefährdet  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Karina hüpft auf den Schoß des Gastes. Mit kreisenden Hüften und schmollenden Lippen demonstriert sie, wie sich müde Recken doch noch stimulieren lassen. Ihr eigener Orgasmus ist allerdings wie immer simuliert. Und genau das ist Karinas Problem, weshalb sie auch als Gast in die Show „Pro eto“ („Über das eine“) eingeladen wurde.

Sonnabends nach Mitternacht strahlt Rußlands Privatsender NTW die heiß umstrittene Sendung rund um die Libido aus. Kommunisten, Nationalisten und orthodoxe Kirche möchten die Sendung verbieten, würden Sex und Pornographie am liebsten gleich ganz aus Rußland verbannen. Das Thema beschäftigt derzeit auch das russische Parlament, die Duma. Sie diskutiert gerade den Entwurf eines neuen Pornographiegesetzes, das von dem Filmregisseur und nationalistischen Abgeordneten Stanislaw Goworuchin eingebracht worden ist. Das Gesetz unterscheidet zwischen Pornographie, die verboten werden soll, Erotik und „Produkten sexuellen Charakters“, die von einer staatlichen Kommission kontrolliert werden sollen. Wer letztere gewerbsmäßig vertreibt, muß mit Lizenzkosten um die 20.000 US-Dollar rechnen. Ob das den gesamten Handel oder schon den Verleih einer einzigen Kamasutra- Kassette betrifft, läßt der Entwurf offen.

Im Fernsehn dürfen Softpornos nach dem Gesetz nun nur noch zwischen ein und vier Uhr früh ausgestrahlt werden, und das nur dann, solange bei der „Vorführung von Handlungen sexuellen Charakters die Realisierung von Geschlechtsakten und das detaillierte Zeigen von Geschlechtsteilen im Moment der Ausführung sexueller Handlungen nicht zugelassen wird“. Schon solche Formulierungen erregten einen Teil der Abgeordneten allerdings so heftig, daß sie den Gesetzentwurf selbst als pornographisches Schrifttum werteten. Goworuchin warnte jedoch davor, durch ein noch restriktiveres Gesetz das Sexgeschäft ganz in den Untergrund abzudrängen. Die Kommunistin Tatjana Astrachanskaja ließ den Einwand nicht gelten. Die Gesellschaft hätte keinen Schutzmechanismus entwickelt: „Gibt man dem Monster grünes Licht, werden sich schwerwiegende Folgen einstellen“.

„Pro eto“ stellt ein Novum dar, weil in unzweideutigen Worten gesagt wird, was die Bilderwelt der Medien längst beherrscht: Verführerische Nymphen werben für alles und jedes. So verheißt eine betörende Nackte in der Kreditkartenwerbung „Ihnen gehört restlos alles“, während Schneewittchen zum russischen Weihnachten versprach, nur mit einem Pelz bekleidet vorbeizuschauen. Viele jüngere Frauen fühlen sich jedoch keineswegs als Sexualobjekt ausgenutzt, sondern geschmeichelt. Nach dem Motto: Das Leben ist eine permanente Balz!

Bisher kontrastierte die visuelle Freizügigkeit auffallend mit der Züchtigkeit des öffentlichen Diskurses. Der suggerierte nämlich, Begierde, Lust und Leidenschaft seien Regungen aus einer anderen Welt. Erst „Pro eto“ öffnete das Ventil: Hier nehmen die Protagonisten kein Blatt vor den Mund, ja, sie genießen es geradezu, sich zumindestens verbal zu entblößen.

Dennoch versichern die um die seelische Gesundheit besorgten Moralisten, Sex sei der russischen Gesellschaft wesensfremd. Eine Behauptung, die seit zweihundert Jahren hartnäckg Literatur und Religionsphilosophie durchzieht. Der Trieb sei demnach nur aus dem verdorbenen Westen importiert. Mütterchen Rußland indes hüte ihre Unbeflecktheit, strotzt vor Reinheit. Ihr Körper sei asexuell und berge in sich die Kraft, Rußland vor der Dekadenz des materialistischen Westens zu bewahren. Schließlich spielen im russischen Leben weibliche Eigenschaften – Intuition, Spiritualität, Gemeinschaftlichkeit und Verbundenheit – eine bedeutendere Rolle als im maskulinen Westen, wo man sich den Götzen Rationalität, Individualismus und Unabhängigkeit verschrieben habe. Die Nähe der slawophilen antiwestlichen Vorbehalte zu feministischen Positionen mag dabei rein zufällig sein.

Die Gegner der Liberalität schlachten die zivilisatorische Rückständigkeit Rußlands aus, um sich über andere Kulturen zu erheben. Zu Hause dürfen die Dinge deshalb nicht beim Namen genannt werden. Daraus erklärt sich auch der Widerstand gegen die Sendung Pro eto, deren Moderatorin sich vorgenommen hat, den Menschen das Gefühl zu vermitteln, mit ihren Problemen nicht die einzigen zu sein. Denn die schreien zum Himmel: Allein zwanzig Prozent der Männer sollen nach vorsichtigen Schätzungen impotent sein. Und der Sexologe Igor Kon beklagt eine emotionale Verarmung und Vulgarisierung der Geschlechterverhältnisse, die er auf die stalinistische Sexophobie zurückführt.

Natürlich wissen die Exegeten der fiktiven Vergangangenheit, daß die Russen es nicht weniger als andere treiben. Die Gesellschaft ist im höchsten Grade promiskuitiv, und das nicht erst seit gestern. Die Jugend der sechziger und siebziger Jahre zelebrierte Sex geradezu als einen Untergrundkult: Er sprengte die Enge und lud in der Eintönigkeit hinter dem Eisernen Vorhang wenigstens zu einer emotionalen Reise ein. Jeder Koitus wurde zu einem Akt sozialen Widerstands.

Die Literaturnaja Gaseta, das Blatt der Intelligenz, sah vom „Sexologismus“ sogar die „nationale Sicherheit“ des Landes bedroht. Eine Verschwörungstheorie, notdürftig in ein philsophisches Gewand gehüllt. Dem neuzeitlichen Credo Descartes, „Ich denke, also bin ich“, wird die Formel des russischen Philosophen Wladimir Solowjew entgegengehalten: „Ich schäme mich, also bin ich“. Wer im Angesicht seiner Triebe in die Erde versinkt, ist sich des Menschseins gewiß. Irritierend, da sich die Scham nur auf die Libertinage beschränkt, den alltäglichen Sittenwidrigkeiten und Mißachtung elementarster Menschenrechte indes keine Auflagen macht.