Von der Partei zur „bewaffneten Bande“

Der türkische Staat holt zum Schlag gegen unliebsame Parteien aus. Erst wurde die islamistische Refah verboten, jetzt droht der kurdischen Hadep das Aus. Sie wird von der Staatsanwaltschaft kriminalisiert  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Die Existenz von türkischen Parteien hängt häufig an einem seidenen Faden. Nachdem das Verfassungsgericht 37 Tage nach dem Verbot der islamistischen Wohlfahrtspartei am Wochenende die schriftliche Urteilsbegründung vorgelegt hat, ist das rechtliche Ende der Partei endgültig. In den vergangenen Wochen konnte die Partei noch Fraktionssitzungen im Parlamentsgebäude abhalten und war in den Parlamentsausschüssen vertreten. Jetzt stehen die Abgeordneten vor dem Nichts, obwohl das Parlamentsmandat der meisten erhalten bleibt. Der ehemalige Ministerpräsident und Parteivorsitzende Necmettin Erbakan und drei weitere Abgeordnete, deren Mandat annulliert wurde und die mit einem fünfjährigen politischen Betätigungsverbot belegt wurden, werden auf der Anklagebank Platz nehmen. Allein gegen Erbakan sind sieben Strafprozesse anhängig. „Aufhetzung der Bevölkerung zu Feindseligkeiten auf Grundlage religiöser Unterschiede“ lautet eine der Anklagen. Geht es nach dem Willen der übereifrigen Staatsanwälte der Staatssicherheitsgerichte – sie sehen sich ermächtigt, auch über die türkische Politik zu walten –, könnte alsbald Haftbefehl gegen Erbakan erlassen werden.

Daß mit der politischen Justiz nicht zu spaßen ist, erfuhr jüngst auch die Parteispitze der legal wirkenden und vom Verfassungsgericht noch nicht verbotenen kurdischen „Arbeitspartei des Volkes“ (Hadep). Der Staatsanwalt des Staatssicherheitsgerichtes Ankara hatte die Durchsuchung der Parteizentrale angeordnet. Sondereinheiten des Polizeidezernates für Terrorismusbekämpfung stürmten die Parteizentrale und nahmen die Führung fest. Vier Tage später erging Haftbefehl gegen den Vorsitzenden Murat Bozlak und sechs weitere Spitzenfunktionäre der Partei. Wegen „Gründung einer bewaffneten Bande“ wird ihnen nun der Prozeß gemacht. „Beweismittel“ ist ein Kalender des Jahres 1998 mit dem Titel „Frieden, Brüderlichkeit und Demokratie“, den die Parteizentrale vor zwei Monaten drucken ließ, darin Fotos der im Gefängnis sitzenden kurdischen Abgeordneten Leyla Zana und des seit fast zwei Jahrzehnten wegen kritischer Publikationen zu Kurdistan inhaftierten Soziologen Ismail Besikci. Dazu der Text: „Ihr prozessiert gegen uns wegen unserer Gesinnung. Entweder ihr sperrt uns lebenslang ein oder hebt alle Gesetze, die die Meinungsfreiheit behindern, auf“ sowie die Todesdaten der von Todesschwadronen ermordeten Parteimitglieder.

In der Türkei sind Parteien nur in der engen Bandbreite, die der Staat – allen voran die Militärs – vorschreibt, zugelassen. Außerhalb dieses Spektrums wird jede Partei, mag sie sich noch so sehr an die geltenden Gesetze halten, kriminalisiert. Klammheimlich macht sich der Rest der Parteien daran, die Beute der Parteienleichen aufzuteilen – denn bei den letzten Nationalwahlen votierten sechs Millionen Wähler für die Refah und fast eineinhalb Millionen für die Hadep.

Das Verbot von Parteien, die Festnahme und die Verurteilung von Parteiführern sowie das politische Betätigungsverbot zeigen nachhaltige Wirkung. Schon heute ist klar, daß sich die Wohlfahrtspartei nicht einfach unter anderem Namen reorganisieren wird. Nachdem Erbakan von der politischen Bühne verdrängt wurde, besteht selbst die Gefahr einer internen Spaltung. Erbakan will die neue Partei einem engen Gefährten, vermutlich dem Abgeordneten Recai Kutan, anvertrauen, der unter totaler Kontrolle seines Vorgängers die Geschäfte führen würde. Die jüngere Generation in der Partei begehrt dagegen auf. Aussichtsreichster Kandidat der sogenannten Erneuerer ist der Oberbürgermeister von Istanbul, Tayyip Erdogan. Doch gegen ihn ist bereits ein Prozeß wegen einer Rede anhängig. Auch der neue Kurs der Bewegung ist umstritten. Einige Kräfte fordern die Ausrichtung der neuen Partei zur Mitte hin, andere wollen eine militantere Partei – trotz des Risikos eines neuen Verbotes. Für die türkischen Parteien gelten die Worte Bertolt Brechts, die in dem inkriminierten Hadep-Jahreskalender stehen: „Nichts bleibt, wie es ist.“

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