Nachdenkliche Musik und Jacques Chirac Von Carola Rönneburg

Herr Langetieck stand vor meiner Tür. Er war eingeladen und ein sehr willkommener Besuch. Irritierend war jedoch, daß er sich eine gutsitzende Latexmaske übergestreift hatte, weshalb er wie Jacques Chirac aussah. „Bonsoir, Monsieur“, begrüßte ich ihn artig, und Herr Chirac neigte freundlich sein Haupt und drückte mir eine Flasche guten Rotweins als Mitbringsel in die Hände. Ich bat ihn, Platz zu nehmen, und stellte ihm meine anderen Gäste vor.

Zunächst verlief die Konversation stockend. Aber man sitzt ja auch nicht jeden Tag mit dem französischen Staatsoberhaupt an einem Tisch. Allerdings war es mir schon etwas peinlich, daß meine Freunde Chirac so ungeniert anstarrten. Der ließ sich aber, ganz Mann von Welt, nicht aus der Ruhe bringen, und nach einer Weile entspannte sich die Lage.

Wir unterhielten uns über die üblichen Themen: Die Irak- bzw. USA-Krise; den Niedergang der Kunst und neurotische Chefs. Monsieur Chirac steuerte hier und da etwas bei – besonders die Rolle Frankreichs in der Golfkrise wußte er überzeugend zu erklären –, hörte aufmerksam zu und führte in regelmäßigen Abständen sein Weinglas an den Schlitz zwischen den Lippen seiner Maske. In ebenso regelmäßigen Abständen quoll Rauch einer Gauloises-Zigarette aus seinen Nasenlöchern.

Zu späterer Stunde ersann ein Mitglied der Tafelrunde ein Spiel mit Salz- und Pfeffermühlen. Die bekamen kleine Mäntelchen aus Tempotaschentüchern umgehängt und sollten religiöse Fundamentalisten darstellen. Chirac übernahm die Gestaltung ihrer Gesichter: Er bemalte kleine gelbe Klebezettelchen mit Augen und heftete sie an unsere Fanatiker. Wir schoben Herrn (Pfeffer) und Frau (Salz) Fundamentalist über das Tischtuch und sprachen dazu diverse Dialoge ein, hauptsächlich auf französisch. Das ging so lange, bis das Pärchen ernsthaft zerstritten war. Da wir uns nicht einigen konnten, wie es und ob es mit ihnen weitergehen sollte, steckten wir beide ins Gefängnis.

Dann fiel Jacques ein, daß er die brandneue Motörhead-CD in der Jackentasche transportierte. „Allons!“ rief er. „Écoutons a la nouvelle tête du moteur!“

Wir hörten Lemmy Kilmister zu, von dem Jacques behauptete, er zeige sich auf dieser CD sehr nachdenklich. Wir alle schüttelten die Köpfe – zur Musik, naturellement –, während Lemmy nachdenklich röhrte. Er war dennoch guter Dinge, so wie wir und unser hochgestellter Freund. Fröhlich, ja geradezu aufgeräumt war die Stimmung, bis ein Gast behauptete, wer eine Motörhead-Platte gehört habe, kenne alle. Das machte Chirac wütend, und er verwünschte den Ignoranten, wie es nur Franzosen auf französisch können.

Unter Einsatz all meiner diplomatischen Fähigkeiten gelang es mir, Frieden zu stiften. Gegen Mitternacht brach Chirac auf. Er wollte noch gewisse „copains“ in einer Kreuzberger Kneipe namens „Le Franque“ treffen. Also bastelten wir ihm aus Kreppapier eine schöne blau-weiß-rote Blume, die der Präsident, sehr angetan von dieser Geste, ans Revers hefete.

Zum Abschied winkten wir Chirac vom Balkon zu. Noch lange danach unterhielten wir uns darüber, daß wir ihn uns ganz anders vorgestellt hatten. Aber vor allem hatte uns beeindruckt, daß Chirac mit dem Fahrrad gekommen war.