Arbeit am Verschwinden

Der Blick auf die französische Intellektuellendebatte ist auch einer auf die Selbstbegrenzung der deutschen. Foucault verwarf den universalistischen Ratgeber. Derrida empfiehlt die Selbstaufhebung  ■ von Nikolaus Müller-Schöll

In deutschen Debatten über Verschwinden und Nachleben des engagierten Intellektuellen hallt noch immer das Echo des Rufes nach dem starken Mann und der Gemeinschaft. Autoritär und elitär ist der Rededuktus des Kampfes gegen den „Gutmenschen“ (Kurt Scheel), billig die Erhebung über Dolly Buster, bloß noch komisch die Distinktion des Intellektuellen vom Journalisten. Und ganz gleich, welchem der eher kontingent sich ergebenden Lager die Streiter im Kampf um die Diskurshoheit angehören, was sie eint, ist der Glaube an die Kraft der Kommunikation. Verdammt sei, so gibt uns Walter von Rossum zu verstehen, wer „die Öffentlichkeit ausschließlich dazu“ benutze, gegen die Instabilität der Kommunikation „zu predigen und zu immunisieren“. Da fehlt dann wirklich nur noch einer, der „festlegt, wer sich wann und wo äußert oder nicht äußert“ (Wolfgang Engler).

Auch in Frankreich hat der universalistische, überall Rat wissende Intellektuelle seine Grablegung überlebt, wenngleich nur als Schauspieler seiner selbst: Als Medienintellektueller, der gestern nach Bosnien reiste und heute mit seinen Beobachtungen in Algerien die Spalten von Le Monde füllt. Als Unterzeichner gleich welcher Petition. Als Interviews gebender „Dissident“, der wortreich begrün- det, warum er den Aufruf zum zivilen Ungehorsam gegen ein verschärftes Asylgesetz nicht unterzeichnet hat.

Ernster zu nehmende Debatten um den engagierten Intellektuellen beginnen dagegen in Frankreich mit der Frage, weshalb er verschwinden mußte. Foucault verwarf den universalistischen Ratgeber, der den Gegensatz zwischen sich und den von ihm Beratenen vertuscht. Zugleich erfand er das Modell des intervenierenden Experten: Der Historiker, der untersucht hat, wie psychiatrische Anstalten, Gefängnisse und die Rede vom Sex entstanden sind, unterstützt mit seiner Arbeit den Kampf der Aktivisten. Der Soziologe Pierre Bourdieu und der Philosoph Jacques Derrida verkörpern heute am ehesten den Typus des postsartreschen Intellektuellen: Was sie verbindet, ist die Illusionslosigkeit über die Möglichkeiten des Intellektuellen und das gleichzeitige Festhalten am Anspruch, mit dem er in der Epoche des Bürgertums, von Voltaire über Zola bis Sartre, die Bühne des öffentlichen Lebens betrat.

Die Frage, die Bourdieu theoretisch verfolgt, läßt sich auf die Formel bringen: Was geht hinter dem Rücken derer vor, die in der Öffentlichkeit agieren. Untersuchungen wie „Die feinen Unter- schiede“ oder „Homo academicus“ verfolgen das Anliegen, etwas mehr Klarheit über die gesellschaftlichen Mechanismen zu erlangen, die das scheinbar so selbstbewußte, autonome Verhalten des öffentlich Handelnden bestimmen. Mit dem Entwurf eines Modelles, das die verschiedenen Bereiche der Gesellschaft als mehr oder minder autonome „Felder“ begreift, hat er das Verständnis etwa der öffentlichen Proteste erleichtert. Der Schriftsteller, Philosoph oder Soziologe, der entgegen seiner im traditionellen Sinne ökonomischen Interessen handelt, erwirbt dabei kulturelles Kapital. Anders gesagt: Das scheinbar selbstlose „Engagement“ zahlt sich für ihn mittelbar wieder aus.

Soweit freilich wäre das nichts anderes als der allgegenwärtige Verdacht, daß Schriftsteller wie Grass oder die 66 Filmemacher, die im vergangenen Jahr zum zivilen Ungehorsam aufriefen, mit ihrer öffentlichen Empörung letztlich nur den Absatz der eigenen Bücher oder die Chancen der eigenen Filmprojekte fördern wollen. Was Bourdieu an diesem Punkt hinzuzufügen hat, klingt zunächst zynisch: „dank des Entstehens von Universen wie dem intellektuellen Feld, in dem traditionsgemäß der Einsatz für die allgemeinen Angelegenheiten belohnt wird, kann man bei der Mobilisierung der Intellektuellen im Interesse des Universellen auf die symbolischen Gewinne setzen, die für sie mit Aktionen dieses Zwecks verbunden sind“, schreibt er in einem Essay über die „Rolle des Intellektuellen in der modernen Welt“. Mit anderen Worten: Seien wir froh, daß sich Gutsein in der intellektuellen Welt immer noch auszahlt, die Welt nicht ganz so schwarz ist, wie sie spätadornistische Apokalyptiker mitunter ausmalen.

Bourdieu selbst ist vielleicht das beste Beispiel für einen solchen historischen Kompromiß zwischen Eigennutz und Engagement. Die Erforschung der Distinktionsmerkmale, die die Oberen der französischen Gesellschaft von den Unteren trennen, hat ihm selbst die höchsten Weihen des akademischen Betriebes eingetragen: Einen Lehrstuhl im „College de France“. Sein Engagement ge- gen die Politik des deutschen Bundesbankpräsidenten, für die Einführung der „Gay and Lesbian Studies“ in den französischen Universitäten die Streikenden 1995 oder die rebellierenden Arbeitslosen heute verschafft ihm darüber hinaus die Sympathie oder doch zumindest den Respekt der „moyenne“ und „basse intelligentsia“ in Politik und Gesellschaft. Zu sagen, was davon aus Überzeugung oder Tugendhaftigkeit, was aus Berechnung oder Eigennutz lanciert wurde, ist unmöglich – und unnötig, zumindest, wenn man Bourdieus Unterscheidung des „Universellen“ vom Partikulären zu akzeptieren bereit ist.

Genau an diesem Punkt aber setzt der Zweifel an, den Jacques Derrida artikuliert. Wie Bourdieus „Sozioanalyse“ nimmt auch Derridas „Dekonstruktion“ ihren Ausgang von der Erfahrung eines „Unbewußten“. Während aber Bourdieu in dem Moment, in dem er die „Organisationsform“ eines „kollektiven Intellektuellen“ konzipiert, das Unbewußte nur noch als Übergangsstadium begreifen kann, bleibt es im Denken Derridas radikal unerschließbar. Daraus entspringt, grob vereinfacht dargestellt, dessen radikale Infragestellung jeder traditionellen Konzeption von Kommunikation, Engagement und Stellvertretung.

Als die Zeitschrift Lignes die französischen Intellektuellen kürzlich zur „Selbstdefinition“ einlud, stellte Derrida dementsprechend zunächst einmal die Behauptung in Frage, man könne das eigene „Selbst“ definieren: Ein Teil seiner Person, „jemand in mir neben mir“, so formulierte er, sei zu keinem Kompromiß mit irgendeiner vorab definierten Rolle des „Intellektuellen“ bereit.

Zwischen dieser Instanz, die sich jeder Politik im Rahmen vorgegebener Konventionen widersetzt, und den anderen Instanzen innerhalb der Person bedürfe es einer beständigen Verhandlung. Kein wie auch immer definiertes Kollektiv kann von dieser gleichsam asozialen Instanz akzeptiert werden, jede kollektive Ordnung wird von ihm erneut zur Disposition gestellt.

Nun trifft sich solche Abwehr gegen die exakte Definition zwar mit der Alltagserfahrung, daß es nicht sehr angenehm ist, auf eine ungeteilte Identität festgelegt zu werden, für die Sozialwissenschaften muß sie gleichwohl eine inakzeptable Zumutung bedeuten – und die Polemik von Habermas gegen „die Dekonstruktion“ zeugt davon ebensosehr wie Luhmanns Versuch ihrer Domestizierung. Wenn das (In)dividuum in Derridas Sinne begriffen wird, dann sind die Akteure des sozialen Handelns nicht mehr definierbar, ist ein „Gemeinsames“ nicht mehr stabilisierbar, objektiviertes Wissen unmöglich, werden die Grenzen zwischen Argumentation und Überredung fließend.

Derrida selbst ist dieses Problem nicht entgangen, es zieht sich durch den Großteil seiner Arbeiten der letzten Jahre. Es läßt sich in ihnen eine Art von Kehrtwendung beobachten. Ging es ihm früher vor allem darum, die unhaltbaren Oppositionen zu zerlegen, durch die der fleischessende, männliche, widerspruchsfreie Diskurs im Verlauf der abendländischen Geschichte seine Macht gesichert hat, so fragt er in neueren Texten, die sich häufig mit dem politischen Denken beschäftigen, verstärkt nach dem, was nicht „dekonstruierbar“ ist: „Gesetzeskraft“, die Lektüre von Walter Benjamins Aufsatz „Zur Kritik der Gewalt“ ist der Versuch, einen quasitranszendentalen Begriff der Gerechtigkeit zu retten; „Marx' Gespenster“ bezeichnet als den zu erhaltenden Kern der Marxschen Arbeit deren unheimliche Bedrohung jeder institutionalisierten Macht; in neueren, noch nicht ins Deutsche übersetzten Essays untersucht Derrida die Möglichkeit einer Politik, die statt auf dem Begriff des „Feindes“ auf dem des Freundes aufbaut, und fragt, wie Ethik im Durchgang durch die Aporien ihrer klassischen Begründungsversuche anders neu zu begründen wäre – als „Ethik des Anderen“.

Der kleinste gemeinsame Nenner dieser neueren Arbeiten Derridas ist der Versuch, dasjenige, was Freud als „Trauerarbeit“ bezeichnete, ins Politische zu übertragen: Was heißt es, wenn überall verkündet wird, Marx, der Kommunismus, die Linke usw. seien tot? Was wird aus den Fragen, auf die sie antworteten, was aus den Erfahrungen, die sie festgehalten haben?

In diesen Zusammenhang gehört auch Derridas Analyse der unreflektierten Voraussetzungen linken Engagements, die er zuletzt in einer ausführlichen Hommage an Sartre und die „Temps Modernes“ sowie in einigen Debattenbeiträgen und Interviews unter dem Titel „Marx en jeu“ veröffentlicht hat. Um nicht in die eine oder andere Form der Orthodoxie zu verfallen, so Derrida, habe er sich lange Zeit zu den für sein Denken zentralen Schriften von Marx nicht geäußert. Heute dagegen gelte es, etwas vom Geist von Marx zu übernehmen, eine gewisse Haltung der Verweigerung, des Ungehorsams oder der Kritik. Für seine Form des Engagements bedeutet das, sich im gegebenen Rahmen als Intellektueller zu engagieren – für die „Sans Papiers“, gegen die Verschärfungen des Asylrechts oder für die Rechte der Frauen in Algerien – zugleich aber in jedem Fall auch den Rahmen neu zu erfinden, in dem dies geschieht. Wenn derzeit etwa neue Medien wie das Internet die Trennlinien zwischen privat und politisch radikal verschöben, dann müsse der Intellektuelle bei jeder öffentlichen Äußerung zugleich darauf bedacht sein, das Redeprivileg denen zu verschaffen, die es bisher noch nicht hatten: „Daher die Notwendigkeit, in anderen Stilen zu schreiben, die Codes zu verändern, die Rhythmen, das Theater und die Musik.“

Der Blick über den Rhein ist heute auch ein Blick auf die Selbstbegrenzung der deutschen Debatte. Denn während man hierzulande die „Selbstaufhebung“ des engagierten Intellektuellen noch betrauert, hilflos aufzuhalten sucht oder einfach ignoriert, macht Derrida in guter Marxscher Tradition deutlich, woran der Intellektuelle heute arbeiten muß, wenn er seine eigene Legitimation, durch nichts und niemanden gebunden zu sein, nicht verraten will: am eigenen Verschwinden.