■ Viele Entdeckungen wurden von Wirrköpfen und Querdenkern gemacht. Die Wissenschaft kann nicht auf Außenseiter verzichten
: Spinnerte Genies

Der große Physiker Isaac Newton hielt sich für den endgültigen Deuter der Heiligen Schrift, Columbus war ein Dilettant, und für den Mathematiker Johannes Kepler sangen die Planeten im Chor. Der italienische Wissenschaftshistoriker Federico Di Trocchio plädiert dafür, daß Forschung auch für Ketzer und Außenseiter offen sein muß.

Ein komischer Kauz war er, der Physiker und Mathematiker Sir Isaac Newton, der mit seinen Bewegungsgleichungen und den Gesetzen der allgemeinen Massenanziehung das heutige naturwissenschaftliche Weltbild geprägt hat wie kein anderer. Der wahre Newton, der in den naturwissenschaftlichen Lexika als eines der größten wissenschaftlichen Genies aller Zeiten bezeichnet wird, war ein Magier und Esoteriker, schreibt der Wissenschaftshistoriker Federico Di Trocchio von der Universität in Lecce in seinem vor wenigen Tagen erschienenen Buch „Newtons Koffer“.

Die erst vor einigen Jahren wieder ausgegrabenen Dokumente, die Newton nach seinem Tod 1772 in einem alten Koffer hinterließ, zeigten, daß seine Himmelsmechanik für ihn nichts anderes war als eine Interpretation der Heiligen Schrift. „Der große Isaac verheimlicht nicht, daß er sich im Zeichen des unmittelbar bevorstehenden Weltuntergangs und des Jüngsten Gerichts für den letzten und endgültigen Deuter der Heiligen Schrift hält“, meint Di Trocchio.

Das Zusammenspiel von Wahnsinn und Genie in der Wissenschaft hat der Wissenschaftshistoriker und Chefredakteur der „Enciclopedia italiana“, Di Trocchio, in seinem neuesten Werk untersucht – die Macken der Forscher und wie das wissenschaftliche Establishment auf Wirrköpfe, Wissenschaftsketzer und hartnäckige Außenseiter reagiert. Er zeigt die andere Seite der Wissenschaft, die oftmals von einem Schleier eingehüllt wird und die in keinem Lehrbuch nachzulesen ist.

Schon in seinem 1994 erschienenen Buch „Der große Schwindel“ wagte Di Trocchio die Ikonen der Wissenschaft ins Wanken zu bringen. Akribisch und spannend wie ein Krimi wies der Historiker nach, daß im Namen der Wissenschaft schon immer gelogen und betrogen wurde. Selbst als Genies vergötterte Forscher wie etwa Mendel, Galilei oder Newton waren nicht davor gefeit, ihre Theorien mit erfundenen oder gefälschten Experimenten zu untermauern. Die großen Forscherpersönlichkeiten kommen auch diesmal nicht ungeschoren davon.

Newton war keine Ausnahme. Kolumbus entdeckte Amerika, „gerade weil er in Mathematik und Astronomie ein Dilettant war“. Der berühmte Seefahrer war nämlich nicht in der Lage, die Längengrade in Entfernungen umzurechnen. Zudem verwechselte er die arabische Meile (etwa zwei Kilometer) mit der römischen (1,5 Kilometer). Statt auf 40.000 Kilometer kam er bei der Berechnung des Erdumfangs auf 30.000 Kilometer. Ohne diese Fehler hätte er seine Reise nicht planen können. „Wissenschaftliche Inkompetenz und visionärer Größenwahn“ haben, so Di Trocchio, zur Entdeckung Amerikas geführt.

Religiöse Wahnvorstellungen inspirierten den deutschen Astronomen und Mathematiker Johannes Kepler, der neben Newton und Galileo Galilei als der „bedeutendste Naturforscher der beginnenden Neuzeit“ eingestuft wird. Die Anfang des 17. Jahrhunderts aufgestellten Keplerschen Gesetze beschreiben die Umlaufbahnen von Planeten um die Sonne. Heutige Wissenschaftler und Historiker bezeichnen Kepler als schizophren. Er war der Überzeugung, daß die Himmelskörper sich in ein „musikalisches Schema“ einpassen ließen, das einem präzisen Plan des Schöpfers folge. Und in seinen Büchern ist auch tatsächlich zu lesen, daß Saturn und Jupiter Baß singen, Mars Tenor, Venus und die Erde Alt und Merkur Sopran. Seine berühmten drei Gesetze entdeckte der Astronom im Verlauf einer ganzen Reihe von herumtastenden Versuchen. Um am Ende dann die auszuwählen, die auch, so Di Trocchio, „die offizielle Wissenschaft nach einem halben Jahrhundert als richtig anerkennen würde“.

Bei den Abweichlern und wissenschaftlichen Ketzern, die mit neuen, revolutionären Ideen Unruhe in das Machtgefüge der Wissenschaftler bringen, müssen nach Di Trocchio zwei Gruppen unterschieden werden. Kommen die von der herrschenden Wissenschaftsmeinung abweichenden Stimmen aus den eigenen Reihen, so können die „Querulanten“ durchaus auf kollegiale Duldung hoffen. Einmal ist es sogar vorgekommen, daß einer, der schon längst zu den „Wirrköpfen“ zählte, mit dem Nobelpreis geehrt wurde: Der britische Physiker Charles Glover Barkla erhielt 1917 diese Auszeichnung für die Entdeckung der charakteristischen Röntgenstrahlung der Elemente. Zu diesem Zeitpunkt glaubte der Physiker einen anderen Effekt der Röntgenstrahlung entdeckt zu haben, den er „J-Phänomen“ nannte. „Ein Phänomen, das es nicht gab und das kein anderer Forscher außer seinen Schülern beweisen konnte“, berichtet Di Trocchio. Selbst bei der Verleihung des Nobelpreises verzichtete Barkla nicht darauf, sein J-Phänomen zu erwähnen. Mit dem Nobelpreis in der Hand, wagten dann auch die wissenschaftlichen Fachzeitschriften nicht mehr, Barklas Artikel über das J-Phänomen abzulehnen.

Ganz anders reagiert die Wissenschaftlergemeinde, wenn die Abweichler von außen kommen und noch nicht die Privilegien eines anerkannten Forschers genießen. Dann wird meist mit aller Härte zurückgeschlagen, werden Intrigen gesponnen und eine Abwehrfront aufgebaut. Unerbittlich können die wissenschaftlichen Verhinderungskartelle sein.

Der englische Elektroingenieur Oliver Heaviside (1850 bis 1925) mußte es am eigenen Leib erfahren. Heaviside hatte zeitlebens nie ein Diplom gemacht. Di Trocchio bezeichnet ihn als „Prototyp eines Wissenschaftsamateurs“. Im Selbststudium eignete er sich die Grundlagen an, die er für das Verständnis des Elektromagnetismus benötigte. Er galt als schwieriger Zeitgenosse und wird als exzentrisch und selbstsüchtig beschrieben.

„Sein größter Verdienst ist es“, schreibt Di Trocchio, „Begriffe und grundlegende Rechenverfahren in verschiedene Bereiche der Elektrotechnik eingeführt und für diese definiert zu haben.“ Er prägte grundlegende Begriffe und führte ein System elektromagnetischer Einheiten ein, das noch heute genutzt wird. Die Fachzeitschrift The Eletrician veröffentlichte anfangs noch zahlreiche seiner Aufsätze. Bis er den Zorn von William Preece, dem Chefingenieur des britischen General Post Office, erregte. Der mächtige Preece war mit Heavisides Theorien nicht einverstanden. Er sorgte dafür, daß Heaviside von der Forschergemeinschaft ausgegrenzt wurde. The Electrician zwang er, keine Artikel mehr von dem „ungebildeten Dilettanten“ zu veröffentlichen, und verhinderte so, daß Heaviside die ihm eigentlich gebührende Rolle in der Geschichte des Elektromagnetismus zuteil wurde. Dabei hatte Heaviside noch Glück: Er gehörte zu jenen Ketzern, die – wenn auch spät – rehabilitiert wurden. Die prestigeträchtigste Akademie der Welt, die „Royal Society“, nahm ihn 1891 – um das Unrecht wieder gutzumachen – als Mitglied auf. Seine umstrittenen Arbeiten wurden auf Kosten der Akademie nach und nach veröffentlicht.

Di Trocchio ist mit seinem Buch nicht angetreten, um die komischen Kauze, Wirrköpfe und Querdenker unter den Wissenschaftlern posthum zu diffamieren. Ganz im Gegenteil, er plädiert dafür, daß die etablierte Wissenschaft toleranter werden muß. Sie müsse sich öffnen auch für die Ideen der „Halbkompetenten“ und „Minoritätenmeinungen“. Es müsse Raum für abweichende Meinungen geschaffen werden. Noch immer trage die Wissenschaft Newtons Koffer mit sich herum: die Anmaßung, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein.

Damit „auch die Außenseiter, die den Mut haben, gegen den Strom zu schwimmen und zu denken, was andere für unmöglich halten“, zum Fortschritt beitragen können, müsse ein Finanzierungsmodell geschaffen werden. Zehn Prozent der Forschungsmittel sollten wissenschaftliche Ketzer erhalten.

Auch wenn Di Trocchio mit seiner bemerkenswerten Sammlung von außergewöhnlichen Lebensläufen klar Stellung bezieht für die Außenseiter in der Wissenschaft – einen Vorwurf muß der italienische Wissenschaftshistoriker sich gefallen lassen: Völlig außer acht gelassen hat er die Jahrtausende währende Ausgrenzung von Forscherinnen, die nur aufgrund ihres Geschlechts keinen Zugang zum wissenschaftlichen Establishment bekamen.

Die gleichen Mechanismen, die so manchen genialen männlichen Forscher in die Bedeutungslosigkeit getrieben haben, verhinderten, daß Frauen lange Zeit überhaupt zum Zuge kamen – Borniertheit und Intoleranz, männliche Herrschsucht und sich gegenseitig stützende Machtklüngel. Wolfgang Löhr

Federico Di Trocchio: Newtons Koffer, Campus Verlag, Frankfurt, 1998, 285 Seiten, 48 Mark.