Kollektiv fürs Leben lernen

25 Jahre Thomas-Weißbecker-Haus in Berlin. Allen Angriffen von außen und internen Schwierigkeiten zum Trotz blieb es das selbstverwaltete Haus für obdachlose Jugendliche und TreberInnen  ■ Von Christoph Villinger

Stell dir bloß die Situation damals vor! Du wurdest erst mit 21 Jahren volljährig, brauchtest für alles mögliche die Unterschrift deiner Eltern, durftest nicht ohne ihre Genehmigung zu Hause ausziehen, nicht wählen, nicht heiraten...“, erzählt Charly, der 1974 ins Thomas- Weißbecker-Haus gezogen ist. Dort lebte er bis 1990. Heute ist der 39jährige Vorsitzender des Trägervereins. „Wir, die damals das ,Georg-von-Rauch-Haus‘ und das ,Thommy-Haus‘ besetzt haben, kamen fast alle aus Arbeiterfamilien in Kreuzberg und Schöneberg. Die Bullen sind bei einer Razzia im ,Rauch-Haus‘ aus allen Wolken gefallen, als unter hundert Kontrollierten nur zwei Studenten waren. Die wohnten eher in Charlottenburg. Aber sie hatten mit ihrer antiautoritären Revolte auch bei uns was ausgelöst.“ – „Die Studenten sagten nach 1968, wenn wir die Gesellschaft verändern wollen, müssen wir die Arbeiter erreichen“, ergänzt Marion, heute die einzige vom Haus fest angestellte Sozialarbeiterin. „So entstand eine Wechselwirkung zwischen der Studentenbewegung und den nicht angepaßten Jugendlichen. Sie faßten Mut, von zu Hause oder aus den Heimen abzuhauen und fanden in den ersten Wohngemeinschaften und Kommunen der StudentInnen einen Freiraum. Das lief natürlich nicht konfliktfrei ab, aber viele der Jugendlichen haben sich dabei politisiert.“

Im Dezember 1972 fand mit der Besetzung des „Georg-von-Rauch-Haus“ am Kreuzberger Mariannenplatz die erste erfolgreiche Hausbesetzung von Jugendlichen in Berlin statt. Doch der Platz reichte noch lange nicht. So wurde ein Auge auf das seit Jahren leerstehende Haus in der Wilhelmstraße 9 geworfen. „Irgendwie haben die Bullen spitz bekommen, daß wir in das Haus wollten, und haben im Februar 73 das Haus mit einem Zaun und Nato- Draht verbarrikadiert“, erzählt Tom, einer der wenigen aus der ersten Generation, der heute noch im Haus lebt. Da haben wir, etwa 80 bis 100 Berliner Jugendliche, die mehr oder weniger auf der Straße lebten, das selbstverwaltete Jugendzentrum „drugstore“ in der Potsdamer Straße besetzt und dort geschlafen. 14 Tage lang haben wir eine tierische Kampagne mit Aktionen, Öffentlichkeitsarbeit und all den Sachen abgezogen. Unsere Situation war richtig Thema in der Stadt. Und am 3. März haben sie dann das Haus in der Wilhelmstraße als ,vorübergehende Lösung für die Jugendlichen‘ rausgerückt.“

„Dann saßen wir da: Die zwei Etagen waren mit 80 bis 100 Leuten völlig überfüllt“, erzählt Charly weiter. „Wo kommt das Essen her? Anfangs brachte die Stadtkantine in großen Thermokübeln das Essen. Es war paradox mit den Sozialdemokraten: Einerseits versorgten sie ,ihre Kinder‘, andererseits wurden wir verdroschen. Einerseits gab es den Jugendstadtrat von Kreuzberg, Erwin Beck, der 'ne wirklich positive Rolle gespielt hat. Andererseits gab es in der ersten Zeit dauernd Razzien im Haus wegen jedem Brett, das irgendwo in der Gegend geklaut wurde.“

Mit der Benennung des Gebäudes nach Thomas Weißbecker, der 1972 im Zuge der Fahndung nach RAF-Mitgliedern von der Polizei erschossen worden war, positionierte sich das Haus. Und wurde im März 75 prompt Opfer der „Aktion Wasserschlag“ der Berliner Polizei. In der selben Nacht, als die „Bewegung 2. Juni“ den entführten CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz freiließ, stürmte die Berliner Polizei etwa 80 Wohngemeinschaften, Wohnprojekte und Häuser. „Fast alle Fenster wurden rausgehauen und Öfen zerkloppt“, erzählt Charly. „Nach dieser Nacht sind mehr als die Hälfte der Leute ausgezogen, weil sie den Terror nicht ausgehalten haben.“ Das Ereignis ging durch die internationale Presse und machte das „Thommy- Haus“ weit über die Berliner Stadtgrenzen hinaus bekannt. „Das war eine wahnsinnige Werbung für uns.“ Und drei Jahre später wurden die Sachschäden in einem Vergleich aus der Senatskasse bezahlt. Ab da ging's wesentlich ruhiger zu. Es gab Sozialarbeiterstellen vom Senat und für die Jugendlichen den eineinhalbfachen Sozialhilfesatz. Die Selbstverwaltung und der „unzeitgemäße“ Name blieben erhalten. Aus dem Haus heraus entwickelten sich mehrere Selbsthilfeprojekte, wie 1976 die Tischlerei in der Körtestraße und ein Jahr später die KfZ-Werkstatt in der Schöneberger Straße. Mitte der 90er Jahre kam das Kinderferien- und Tagungshaus in Wernsdorf, südöstlich von Berlin, hinzu. Viele der Jugendlichen von damals leben noch heute von ihren eigenen kleinen Betrieben und Klitschen. „In diesen Kollektiven hast du einfach viel mehr fürs Leben gelernt als anderswo, du mußtest ja alles selber machen“, bemerkt Marion.

Anfangs erhielt das Haus nur Verträge für jeweils zwei Jahre, es war weiterhin als Provisorium gedacht. Erst im Schwung der Hausbesetzungen 80/81 gab es einen Erbpachtvertrag auf 25 Jahre. In Selbsthilfe wurde das Haus komplett erneuert. Eine Möglichkeit zur Beschäftigung und Ausbildung vieler BewohnerInnen. Aber auch ein gewisser Zwang. „Diesem Druck sind viele ausgewichen. Im ,Thommy-Haus‘ mußt du arbeiten“, warnten TreberInnen am Bahnhof Zoo. Nach fünf Jahren Dreck und Staub blieben von etwa 50 Leuten noch vier übrig. Eine neue Generation zog ein.

Alkohol und Heroin bedrohten Ende der 80er Jahre das Weißbecker-Haus. Nach drei Toten („zweimal Vollrausch und einmal Heroin“) konnte der nach drei Jahren eskalierende Konflikt im Haus nur noch mit Gewalt gelöst werden. Die BewohnerInnen einer Etage wurden rausgeworfen. – Immer wieder zogen neue Leute und „Kids“ durch das Haus. Ein Versuch des Senats, ihnen die Selbstverwaltung mit vielen Millionen abzukaufen, wurde abgewiesen. Ebenso scheiterte der Versuch, sie durch eine massive Erhöhung der Erbpachtzinsen – wegen der immensen Aufwertung der Gegend durch die Nähe zum neu entstehenden Regierungsviertel – finanziell auszubooten. Seit 1992 hat das Haus den Status als „betreutes Obdachlosenprojekt“. „Trotzdem bleibt das Gefühl, daß du alles immer nur bis zur nächsten Katastrophe hinausschieben kannst“, erzählt Marion. „Da werden hier Sachmittel gekürzt, dort die Hausmeisterstelle auf 75 Prozent reduziert, und wir sind immer am Rumrudern. Aber noch läuft unser Vertrag bis 2007, und wir haben schon ganz andere Sachen gemeistert. Es fehlt einfach der Druck auf der Straße als Hintergrund, und so mußt du alleine wahnsinnig powern.“

Nach wie vor findet einmal im Monat ein Plenum statt. Dort wird entschieden, wie sich die BewohnerInnen bei den Verhandlungen über die Erbpachtverträge verhalten, welche Finanzanträge an den Senat gestellt und welche nicht, weil sie zuviel Autonomie kosten. Zwei Drittel der Leute im Alter zwischen 14 und 54 sind immer auf dem Plenum, „ bei 40 bis 50 BewohnerInnen ein schöner Prozentsatz“.

Schräg gegenüber ist in den letzten Jahren die neue Bundesparteizentrale der SPD entstanden, ein futuristischer Bunker mit schußsicheren Scheiben. „Die schätzen uns als Sicherheitsrisiko ein“, sagt Charly, „doch wir haben ihnen gezeigt, daß wir hier auch existieren und daß sie nicht ihren Film abziehen können, wie sie wollen.“ Das Weißbecker-Haus ist ein herrschaftliches Gebäude. Früher beherbergte es das „Kartografische Institut“ der Nazis, nach dem Krieg die Zeit. In den sechziger Jahren diente es als Wohnheim für „Gastarbeiter“ und sollte in den siebzigern für die hochtrabenden Autobahnpläne der Berliner SPD abgerissen werden.

Die Graffiti im Treppenhaus erzählen aus 25 Jahren linker Geschichte. „Wer weiß heute noch etwas vom Putsch 1973 in Chile?“ fragt Charly und weist auf ein Wandgemälde zwischen zweitem und drittem Stock. Die Selbständigkeit der einzelnen Stockwerke ist nicht zu übersehen. Im vierten Stock gibt es eine weitläufige 400 Quadratmeterwohnung („Wenn du zur Toilette willst, brauchst du ein Fahrrad“), schön renoviert mit Stuckdecken, Parkettboden und Balkon, alte Holzjalousien. Und in der „Punker-Etage“, schlägt uns der beißende Geruch von Hunden entgegen. „Ist eben alles ganz unterschiedlich hier.“

Jetzt steht das Jubiläum an. „Da ziehst du eine Art Lebensbilanz“, sagt Tom nachdenklich. „Gemessen an unseren politisch-revolutionären Ansprüchen haben wir nur ein Bruchteil erreicht. Aber gemessen an den Realitäten um uns herum bietet so ein Haus immer noch total viel Möglichkeiten, die nur genutzt werden müssen.“ „Am meisten beeindruckt hat mich“, meint Hanna mit den meerblau- leuchtendrot gefärbten Haaren, „daß meine Mutter das Haus von Anfang an kennt. Die hatte hier einen Freund und besuchte ihn im ,Thommy-Haus‘.“