■ Wenn auch sonst noch nicht viel Klarheit über die Ziele einer möglichen SPD-Regierung herrscht, Europa wird eines der wichtigsten Themen. Eine Erkundung über den Stand der Vorbereitung für eine neue Europapolitik der SPD beim Bonner Parteivorstand Von Christian Semler
: Das Europa der Sozialdemokratie

Seit in Großbritannien Tony Blair und in Frankreich der Sozialist Lionel Jospin gewählt wurden, träumt auch die SPD wieder von einem sozialdemokratischen Europa. Falls die Genossen im September ebenfalls siegen, soll die europäische Beschäftigung zu einem Kernstück der

neuen Politik werden. So gut die Chancen dafür auf dem Papier aussehen, so schwierig wäre die praktische Umsetzung. Konzepte gibt es, die Vorbereitung auf

den Ernstfall läuft. Doch auch den Sozialdemokraten ist das nationale Hemd noch näher als der europäische Rock.

Der Name klingt verdächtig nach realsozialistischem Vorbild. „Abteilung Internationale Politik beim Parteivorstand der SPD“. Aber sonst gibt es keinerlei Ähnlichkeit zwischen dem Bonner Büro der sozialdemokratischen und der Berliner Büroflucht der dahingegangenen einheitssozialistischen Internationalisten. Herrmann Axen, Sekretär für internationale Beziehungen des ZK der SED, residierte in düsteren Fluren an der Oberwallstrasse, Michael Hofmann hingegen, den Oberinternationalist der SPD, verbindet eine lichte Freitreppe mit dem rundum verglasten Versammlungssaal in der Parteizentrale, Räume, die Transparez suggerieren.

Hofmann ist ein Achtundsechziger besonderer Art. Der ehemalge Berliner FU- Student stieß in den frühen siebziger Jahren zu Willy Brandt, als seine radikalen Studienkollegen sich noch die Nase zuhielten angesichts des „stinkenden Leichnams SPD“. Hofmann ist kein Traditionssozialdemokrat, aber Traditionen bedeuten dem nüchternen Funktionär einiges. Zum Beispiel die Pflege der Beziehungen zu den Schwester- (früher: Bruder-)Parteien. In seiner Arbeitsstätte, die vollkommen des Kitschs schwesterlicher Parteibeziehungen enträt, laufen im wesentlichen zwei Fäden zusammen: der Kontakt zur Europäischen Sozialdemokratischen Partei (ESP) einerseits und der zur Sozialistischen Internationale (SI) andererseits.

Die 1951 wiederbegründete Internationale gehört tatsächlich zum eisernen Traditionsbestand sozialdemokratischer Politik. Sie war die Nachfahrin der von Marx und Engels begründeten Internationalen Arbeiterassoziation. In den siebziger und achtziger Jahren, als Willy Brandt den Vorsitz innehatte, trat die SI aus ihrem bisherigen engen Rahmen, als Verein europäischer Sozialisten plus nach Amerika und Israel ausgewandertem Anhang, heraus. In dieser Zeit, die mit dem Epochenbruch von 1989 zu Ende ging, spielte sich die Politik der SI im Koordinatensystem Nord/Süd plus Ost/West ab, d.h. Entwicklungspolitik auf der einen, Entspannungspolitik auf der anderen Seite.

Nach dem Völkerfrühling von 1989 konnte sich die SI vor Aufnahmeanträgen nicht retten. Neue und gewendete Sozialdemokraten aus Osteuropa und der Dritten Welt klopften an die Tür. Hatte Brandt noch zwanglos GenossInnen und Freunde versammelt, so gerieten jetzt die Beratungen der SI zur Mini-UNO: Jeder will reden, keiner bezieht sich auf den anderen. Insgesamt bleibt die SI weit hinter jenen Aufgaben zurück, die ihr einst, unter der Hegemonie von Willy Brandt, Olof Palme und Bruno Kreisky, gestellt worden waren. Die Krise der Sozialistischen Internationale ist offensichtlich.

Parallel zum Bedeutungsverlust der SI ist ein neues Gremium emporgestiegen - die Europäische Sozialdemokratische Partei (ESP). Das war ursprünglich, wie die SI auch, ein lockerer Verein von Honoratioren der Parteien, bis sich die EG zur EU entwickelte, bis mit den Verträgen von Maastricht und jetzt von Amsterdam der Integrationsprozeß gebieterisch nach einer gemeinsamen Strategie verlangte. Im Niedergang der SI und im Aufstieg der ESP spiegelt sich drastisch, wie sehr sich die Prioritäten verschoben haben. „Europäische Innenpolitik“ versus Orientierung an der Weltgesellschaft. Aber ist eine solche transnationale Innenpolitik überhaupt konzipier- und machbar?

Diese Aufgabe, das ist Michael Hofmann klar, kann nicht von der Europafraktion der Sozialdemokraten in Straßburg entschieden werden. Dort fehlt gerade die ständige Rückbindung an die Beratungen der nationalen Parteizentralen. So ist in den vergangenen Jahren eine Struktur aufgebaut worden, die den Diskussionsprozeß verdichten und Entscheidungen erleichtern soll. Es gibt jetzt einen Vorstand, der hochrangig beschickt wird (Rudolf Scharping ist Vorsitzender). Vor den EU-Gipfeln treffen sich die Parteivorsitzenden. Fachausschüsse wurden gebildet, auch Ad-hoc-Komitees, z.B. vor dem Beschäftigungsgipfel in Luxemburg. Die Vertreter der Parteipresse treffen sich, eine Sommerakademie dient der Schulung und dem Generationszusammenhalt von Nachwuchspolitikern. Die ESP ist also dabei, ein organisatorisches Netzwerk auf der europäischen Leitungsebene aufzubauen – und die politische Entwicklung innerhalb der EU scheint ein solches Projekt zu begünstigen. Auf dem letzten Parteitag der SPD in Hannover resümierte Heide Wieczorek-Zeul: „Wir gehen davon aus, daß eine neue Chance für die Europapolitik eröffnet ist. Seit den Wahlen in Großbritannien und in Frankreich gibt es zum ersten Mal seit Bestehen der Römischen Verträge eine Mehrheit sozialdemokratisch geführter Regierungen in der EU – und damit auch die Chance, mit dieser Mehrheit eine Gestaltung in unserem Sinne zu vollziehen.“

Von den Wahlergebnissen her stimmt das zweifellos, aber was heißt „in unserem Sinne“? Gibt es überhaupt einen gemeinsamen „Sinn“, und wenn ja, ist er in Politik übersetzbar? Oder prallen, wenn es praktisch wird, nicht ganz unterschiedliche Interessen aufeinander?

Diese Frage entscheidet sich an der Behandlung des Komplexes, der von allen europäischen sozialdemokratischen Parteien ins Zentrum gerückt worden ist: dem Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit. Seit dem Weißbuch des EU-Kommissars Jacques Delors, einem Sozialisten, gilt als Gemeingut der Sozialdemokraten, daß eine europäische Beschäftigungspolitik erfolgversprechend ist. Daher das übereinstimmende Plädoyer der Parteien für eine europäische „Wirtschaftsregierung“. Deren Programm wäre, würde sie den Empfehlungen des Weißbuchs folgen, alles andere als revolutionär (obwohl das Weißbuch mit dieser Selbsteinschätzung kokettiert). Tatsächlich synthetisiert das Weißbuch im Kapitel über die Beschäftigungspolitik eine Reihe von Vorschlägen, in denen sich Tony Blairs Bildungsoffensive (gefaßt als Recht auf lebenslange Qualifizierung) ebenso wiederfindet wie Jospins Reduzierung der durchschnittlichen Arbeitszeit, allerdings gefaßt als dezentralisiertes, auf die Bedingungen des Betriebs zugeschnittenes Projekt. Auch die Lieblingszwillinge der deutschen Sozialdemokraten, Senkung der Lohnnebenkosten und Steuergerechtigkeit, finden Berücksichtigung.

Würde man nur die Konsistenz dieser Vorschläge prüfen, würde man das bemängeln, wozu sich Delors nicht durchringen konnte, z. B. das garantierte Mindesteinkommen, man verfehlte den eigentlichen Anspruch. Delors ist deswegen zur sozialdemokratischen Kultfigur avanciert, wird deswegen (auch von der SPD) als Mentor gefeiert, weil er, wie es die deutschen Sozialdemokraten sagen, „am Primat der demokratischen Politik über die ökonomischen Interessen“ festhält. Das ist die lang ersehnte Kampfansage an den Neoliberalismus.

Die Hindernisse, die der Durchsetzung einer europäischen Strategie auf dem Feld der Beschäftigung im Wege stehen, sind leicht heruntergezählt: Sie fangen bei den unterschiedlichen Systemen sozialer Sicherung an, kämpfen mit den unterschiedlichen Prioritäten in der öffentlichen Meinung der einzelnen Länder (in Britannien ist die Krankenversicherung, in Deutschland die Rentenversicherung das Wichtigste). Und sie enden bei einzelstaatlich gefördertem Lohn- und Sozialdumping und bei niedrigen Kapitalsteuern als Waffe im Wettbewerb.

Aber das eigentliche Problem solcher strategischen Konzepte liegt woanders. Im Leitantrag der SPD zur Europapolitik heißt es unter dem „Leitziel sozialer Rechtsstaat europäischer Prägung“: „Die soziale Marktwirtschaft bedarf heute eines neuen, größeren Ordnungsrahmens, der sich an den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des sozialen Ausgleichs orientiert. Soziale und gesellschaftliche Stabilität wird daher künftig in zunehmendem Maße über die europäische Ebene zu ereichen sein.“

Leicht gesagt! Im gesamten Prozeß der kapitalistischen Entwicklung war Lebensplanung, war das subjektive Gefühl der Sicherheit eng mit den Grenzen des Nationalstaats verknüpft. Der amerikanische Politologe Charles Maier spricht in der letzten Nummer der Zeitschrift Transit von einem „imaginierten Identitätsraum“, der verlorenzugehen droht: „Das Gefühl, das eigene Staatsgebiet und den Zeithorizont des eigenen Lebens im Griff zu haben, hat drastisch nachgelassen.“

Deshalb ist mit der Feststellung „der Staat kommt zurück“ noch nicht viel gewonnen. In Frage steht, ob eine supranationale Institution die Bindungen aufbauen kannn, die sich in rund hundert Jahren sozialstaatlicher Entwicklung auf der Seite der Lohnabhängigen zu ihrer Nation herausgebildet haben. Zwar hat es sich herumgesprochen, daß das Steueraufkommen, mit dessen Hilfe die einzelnen Sozialstaaten finanziert werden, in dem Maße dahinschmilzt, in dem die Märkte sich globalisieren. Aber nach wie vor gilt der Satz des Altmeisters, wonach die Klassenkämpfe (vorläufig) der Form nach national sind – damit aber auch ihre Ergebnisse.

Michael Hofmann erweist sich gegenüber solchen Problemen als typischer Vertreter seiner Generation, er setzt auf Aufklärung. Für ihn ist nicht der praktische Ertrag eines internationalen Treffens, eines Seminars entscheidend, sondern die kollektiven Lernprozesse, die während einer solchen Veranstaltung ablaufen. Natürlich gibt es unterschiedliche Regelungen, die sich zum Teil gegenseitig ausschließen. Aber hat nicht Ottmar Schreiner, einer der Sozialexperten der SPD, ihm kürzlich begeistert davon berichtet, wie die Dänen mittels Couponsystem und kommunaler Beihilfen den örtlichen Dienstleistungssektor ankurbeln? Offensichtlich dienen Auslandsreisen doch zu mehr als der Bestätigung der eigenen, vortrefflichen Linie. Das Einflußfeld ist offen, die Lösungswege durchkreuzen sich. Kein Dreigestirn beherrscht mehr das sozialdemokratische Firmament, wie zu Zeiten von Brandt, Palme und Kreisky.

Michael Hofmann, der Organisator, berichtet: Schon haben sich in den kleineren Ländern der EU, vor allem in Holland, Aktivisten der Partei der Arbeit zu ESP- Mitgliedern erklärt. Oskar Lafontaine denkt sogar daran, die deutsche Sozialdemokratie künftig in der europäischen aufgehen zu lassen.

Der Berichterstatter steigt nach dem Gespräch mit dem Internationalisten beeindruckt die sozialdemokratische Freitreppe herunter. „Pessimismus der Einsicht“, murmelt er und „Optimismus des Willens“. Hat sich vielleicht Dahrendorf doch um 100 Jahre geirrt, als er das „Jahrhundert der Sozialdemokratie“ 1989 zu Ende gehen ließ?