Die Natur als Kapital

Im österreichischen Neukirchen wird der Skizirkus ökologisch verträglich gestaltet. Mit Erfolg  ■ Von Reinhard Stockmann

Wenn es in Neukirchen am Großvenediger einmal schneit, dann schneit's. Holleartig schüttet es Gefrorenes vom Himmel.

An den Pfosten des Zauns kann man beobachten, wie der Belag Zentimeter um Zentimeter anwächst. Bald biegen sich die Bäume, und auf den Hausdächern türmt sich die Pracht meterdick. Nur das steile Dach der trutzigen Dorfkirche wehrt die weiße Mütze erfolgreich ab. Immer wieder rauschen dort kleine Lawinen herab.

Auf ihrer Reise nach Süden werden die dunklen Wolkenmassen von einem bis zu 3.800 Meter hohen Bollwerk aus Feld und Eis – den Hohen Tauern – aufgehalten. Erst wenn sie sich am Grenzwall der Ostalpen ihrer Schneeladung entledigt haben, können sie weiterziehen. Bis dahin kann man beruhigt in der Dorfschänke sitzen und sich mit den Einheimischen unterhalten.

Das lohnt sich, denn Neukirchen ist ein interessantes Dorf. Vor den Toren des Nationalparks Hohe Tauern gelegen, wird hier Naturschutz wörtlich genommen. Bereits 1971 hatten die Salzburger mit ihren Kärntner und Tiroler Nachbarn vereinbart, die alpine Bergwelt mit ihren vergletscherten Hochregionen zu schützen. Im Vertragstext verpflichteten sie sich in einem 1.800 Quadratkilometer umfassenden Gebiet, „die Schönheit und Ursprünglichkeit der Landschaft zu erhalten, ihre charakteristischen Tiere und Pflanzen zu bewahren und einem möglichst großen Kreis von Menschen ein eindrucksvolles Naturerlebnis zu ermöglichen“. Erst 1984 wurde der Salzburger Teil des Nationalparks Hohe Tauern Wirklichkeit. Nicht alle waren von der Idee begeistert, denn die Einrichtung einer Schutzzone bedeutet scharfe Einschränkungen. Im Nationalpark dürfen keine Lifte und Seilbahnen installiert, keine Wasserkraftwerke und natürlich auch keine Hotels gebaut werden. Der Traum von einem grandiosen Gletscherskigebiet am Großvenediger oder gewinnbringenden Speicherkraftwerken in den Sulzbachtälern wurde auch in Neukirchen geträumt.

Doch die Dorfbewohner setzten dann doch lieber auf die Natur. 1979 wählten sie Peter Nindl zu ihrem Dorfchef. Er war damals mit 29 Jahren der jüngste Bürgermeister im Salzburger Land. Vehement trat Nindl für die Nationalparkidee ein, denn er war schon damals davon überzeugt, daß eine möglichst naturbelassene Landschaft langfristig das größte touristische Kapital sei. Nindl leistete erfolgreich Überzeugungsarbeit für sein Konzept von einem sanften, naturnahen Tourismus. Wer ihn mit leiser, aber eindringlicher Stimme reden hört, versteht, warum er viele überzeugen konnte. Er will „ökologische Verantwortung und ökonomische Entwicklung in Einklang bringen“. Er setzt auf „einfache und naturnahe Lösungen, da diese oft bessere und preisgünstigere Ergebnisse liefern als technokratische Ansätze“.

Daß eine solche auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Entwicklungsstrategie nicht ökonomische Stagnation bedeutet, stellt Neukirchen eindrucksvoll unter Beweis. In den letzten dreißig Jahren hat sich das einst verschlafene Dörfchen zu einem respektablen Fremdenverkehrsort entwickelt. Die 2.600 Einwohner zählende Gemeinde stellt rund 3.000 Gästebetten zur Verfügung und weist durchschnittlich 350.000 Übernachtungen auf, 60 Prozent davon im Winter. Damit liegt Neukirchen deutlich über dem Durchschnitt des Landes Salzburgs und des österreichischen Bundesgebiets.

Der Ausbau der Infrastruktur steht unter der Devise „Im Süden schützen, im Norden nützen!“. Im Süden befindet sich der Nationalpark Hohe Tauern und im Norden das Skigebiet Wildkogel mit zwölf Seilbahnen und Liften. In den letzten zehn Jahren wurden in die Qualitätsverbesserung der Anlagen über 250 Millionen Schilling investiert. Dabei gingen die Neukirchener sehr behutsam vor: Bei der Errichtung der Betriebsgebäude wurde eine dörfliche Architektur bevorzugt. Die 2.100 Meter hohe Bergstation wurde an die Kanalisation angeschlossen. Mülltrennung ist selbstverständlich. Mit einer Solaranlage werden 7.000 Kilowatt Strom von der Sonne für den Tellerlift abgezweigt. Daß Neukirchen ohne jede Schneekanone auskommt, ist ein weiteres Plus und liegt daran, daß es keine Waldabfahrt ins Tal gibt. Das Skigebiet konzentriert sich auf die weitgehend unbewaldete, über 1.500 Meter hoch gelegene Almregion.

Auch bei der Dorfentwicklung bewiesen die Neukirchener viel ökologisches Verantwortungsbewußtsein und Gespür für die Tradition. Die Erhaltung historischer Bausubstanz wird gefördert, die Neubauten passen sich ins Ortsbild ein und sind aus heimischen Baumaterialien gefertigt, die Parkplätze der Liftgesellschaft wurden vor dem Ort angelegt, Straßen und Plätze sind verkehrsberuhigt, Stromkabel wurden unter die Erde verlegt, störende Werbeflächen entfernt. Die Ansiedlung von Appartement- Hochburgen, die die meiste Zeit des Jahres verlassen sind, hat eine geschickte Gemeindepolitik verhindert. Zwei Mini-Wasserkraftwerke machen Neukirchen zum energieautarken Dorf.

Die Anerkennung blieb der Marktgemeinde am Großvenediger nicht versagt. Seit 1983 hat sie 17 Auszeichnungen und Preise für vorbildlichen Natur- und Umweltschutz sowie für Dorferneuerung, Kultur- und Ortsbildpflege erhalten. Der besonders hohe Anteil an Sommergästen wertet die Fremdenverkehrschefin Ingrid Schöppl ebenfalls als Zustimmung zu dem eingeschlagenen Entwicklungsweg. Zu diesem gehört auch, daß speziell Jugendfreizeiten gefördert werden. Jährlich kommen Tausende von Schülern und Studenten nach Neukirchen. Schon vor 30 Jahren waren es vor allem die Sportclubs der Universitäten Mainz und Aachen, die den Wintertourismus ankurbelten.

Zum Gesamtkonzept der Gemeinde gehört darüber hinaus, eine intensive Pflege des Brauchtums und die Förderung kultureller Aktivitäten. Im Winter werden Weihnachtsspiele aufgeführt, und im Sommer lockt Robin Hood die Gäste im Oberen Pinzgau in die Freilichtarena. Der Snowboardclub hat wertvolle Holzmasken geschnitzt und vertreibt am 6. Dezember mit seinem „Perchtenlauf“ die bösen Geister. Ein altes Kupferbergwerk im Untersulzbachtal, das schon um das Jahr 1500 urkundlich erwähnt wird, haben die Neukirchener mit viel Liebe zum Detail restauriert.

Endlich, nach drei Tagen dichten Schneetreibens ist der Himmel klar und blau. Die gleißende Sonne bringt die Eiskristalle zum Funkeln. Eineinhalb Meter Neuschnee wollen vor der Haustür weggeschaufelt werden. Wo das Auto stand, ist nur noch ein weißer Hügel zu erkennen. Zum Glück fährt der Skibus vor'm Hotel ab. Eine moderne Umlaufbahn befördert die Gäste von 850 auf 2.100 Meter hinaus. Der Wind fegt die letzten Nebelfetzen zum Tal hinaus.

Der Wildkogel ist eine einzige Aussichtsterrasse. Im Süden türmt sich eine grandiose, unberührte Gebirgslandschaft auf: die Krimmeler Tauern, die vergletscherte Großvenedigergruppe und das Großglocknergebiet, ganz im Westen die tiefverschneiten Zillertaler.

Überragt wird das bis Ende April schneesichere Skigebiet vom markanten Felsklotz des Rettensteins. Der schroffe Gebirgsstock aus Kalkgestein thront wie ein Vorbote der im Süden liegenden Dolomiten einsam über der hügeligen Pistenlandschaft. An seinen zerfurchten Flanken, spitzen Felsvorsprüngen und steilen Zinnen findet der Schnee kaum Halt.

Der 1,4 Kilometer lange Schlepplift Frühmesser bringt einen auf den höchsten Punkt in der Skiregion. Von hier oben läßt sich das Wildkogelgebiet gut überblicken. An den Liften wie auf den Pisten herrscht kein Gedränge. Skischulgruppen schlängeln sich die sanften Berghänge hinunter. Einsam wedeln Tiefschneefahrer auf ungewalzten Pisten. Vor den Berghütten liegen die ersten bereits in der Morgensonne.

An den Liften und Seilbahnen herrscht ein herzlicher Ton. Die Angestellten haben immer einen flotten Spruch parat und helfen, die Skier in den Gondelhalterungen zu verstauen. Bei den Kindern ist der Franz am Tellerlift am beliebtesten. Der Senner von der Baumgartenalm macht nicht nur den besten „Schweizer“ Käse, sondern verteilt auch schon mal Gummibärchen an die kleinen Skifahrer, um sie aufzumuntern. Auch das macht sich bezahlt. Mit dem Slogan „Das wahrscheinlich freundlichste Skigebiet Österreichs“ wirbt die Skiarena Wildkogel offensichtlich mit Erfolg.

Übernachtung mit Frühstück ab 160 Schilling (ca. 23 DM) pro Person

Skipaß: Wildkogel (Hochsaison) 6 Tage: 1.630 Schilling (Kinder 1.090). Außerdem 55 Kilometer gespurte Langlaufloipen, Vernetzung mit der 200 Kilometer langen Pinzga- Loipe.

Informationen: Fremdenverkehrsverband Neukirchen, A-5741 Neukirchen am Großvenediger, Tel: 0043-6565-6256,

Anreise: Mit dem Pkw: über München, Kufstein (Ausfahrt Süd), Kitzbühel, Paß Thurn (1.200 Meter), Mittersill, Neukirchen. Vignettenfrei!