Wie Guildo den Homos den Schlager nahm

Statt der Melancholie der Lieder erfüllt nun echte Traurigkeit die wahren Schlagerfans. Guildo Horn ist sicherlich nicht der Zerstörer des Schlagers. Doch sein Sieg macht der Zerstörung ganzes Ausmaß sichtbar  ■ Aus Bremen Jan Feddersen

Sie verstanden die Welt nicht mehr. Jahrelang hatten sie sich still und zäh dafür eingesetzt, daß der „europäische Gedanke“ des Grand Prix d'Eurovison nicht vergessen werde – im Fanclub, bei Schlager-Events und vor allem, indem sie zu den Vorentscheidungen tingelten. Dort hatten sie Kärrnerarbeit geleistet: den Künstlern zeigen, daß ihr Tun nicht nur eine versprengte Gemeinde interessiert. Meist waren es homosexuelle Menschen, die derart den deutschen Schlager retten wollten. Sie waren freundlich und leidenschaftlich, sie wollten die melancholischen Lieder, die Texte, die die Fahne der Liebe hochhalten.

Dann kam vor zwei Jahren der NDR, übernahm die anrüchige Sache vom Bayerischen Rundfunk und wollte den Grand Prix zu einem Quotenhit machen. Der Plan: Die großen Plattenfirmen sollten ihren Nachwuchs ins Rennen schicken, auf daß die Veranstaltung aus dem Naserümpf-Eckchen herauskomme.

Dafür mußte die Jugend gewonnen werden, die Leute, die ihr Geld wirklich für Tonträger ausgeben – Menschen, die Viva und MTV so selbstverständlich anzappen wie die älteren Semester Caroline Reiber. So kam es, daß der deutsche Grand Prix bald gar nicht mehr nach dem Geschmack der schwulen Gefolgsleute dieses ältesten Pop-Ereignisses in Europa war. In der Bremer Stadthalle erkannten sie ihr Schlager-Bayreuth nicht mehr wieder: Da zogen definitiv heterosexuelle Männer und Frauen, in aufgeräumtester Stimmung und grölend wie im Fußballstadion, durch die Foyers und riefen: „Guildo für Deutschland“ und „Guildo ist unser Meister“. Sie trugen orangene T-Shirts und leuchtende Augen. Sie waren mit Bussen aus Köln, Nürnberg und Göttingen angereist. Sie wollten ihren Spaß.

Tagelang hatte Bild für Guildo Horn gekämpft, sein Privatestes zur Schlagzeile gemacht und alle TV-Stationen motiviert, in die Reklame für den Maestro einzustimmen. Die unterschiedlichsten Medien nahmen sich der Sache an: Viva, Sat.1 oder das WDR-Jugendradio „Eins-Live“. Nur so konnte die Synthese aus schlechter deutscher Schlagertradition und moderner Spaßkultur zum Gewinner werden.

Horns Fans waren in Bremen grob, selbstbewußt und laut. Hätte zu ihnen einer gesagt, daß der Kölner Sänger Guildo Horn echt Scheiße ist und daß aus seinen wenigen Haaren auf dem Kopf niemals eine Fönwelle komponiert werden könnte... gar nicht auszudenken. Zu Prügeleien kam es dann sogar, und zwar unter den Fotografen beim Kampf um die günstigsten Plätze bei der Pressekonferenz. Wie Horns Hooligans konnten auch sie zufrieden sein: Ein Schlagerwettbewerb der in allen Redaktionen der Republik für die Seite eins wert befunden wurde, der in den ARD-„Tagesthemen“ und in den Radionachrichten einen Spitzenplatz bekam. War es das letzte Schlachtfest des deutschen Schlagers, das derart die Aufmerksamkeit auf sich zog, war es der Akt kultureller Grenzverletzung, oder war es nur die schöne Mediengeschichte vom Underdog, der sich anschickt, ein allmächtig geglaubtes System anzugreifen?

680.000 Menschen stimmten am Donnerstag abend per TED über den deutschen Beitrag zum Schlagerfest ab. Den dritten Platz belegten die „Drei Tenöre“, den zweiten das Berliner Duo „Rosenstolz“ – beide mit um die neun Prozent. Der Sieger aber war – Guildo Horn mit 62 Prozent aller Telefonvoten. Knapp zwei Drittel – das ist beinahe genug für eine Grundgesetzänderung. Und Horn nutzte die Chance, in der Schlagerkultur einen Verfassungsbruch zu exekutieren. Sein Lied („Guildo hat euch lieb“) macht vielleicht nicht viel her – aber es ging beim Grand Prix von jeher nie um den Kammermusikpreis einer Musikhochschule. Ausschließlich um Show geht es – und die hatte Guildo Horn eben am besten gegeben. Seine Hintermänner Stefan Raab („Hier kommt die Maus“) sowie Michael Holm („Mendocino“) zeigten der bislang verläßlich schlagertraditionalistischen ARD, was sie bei Viva gelernt haben. Es ist das Feingefühl für die Wege, die kulturelle Strömungen gehen.

Der NDR hatte sein Ziel erreicht, den Grand Prix aus dem medialen Einerlei herauszulösen. Die Quote mit 23 Prozent (knapp 8 Millionen Zuschauer) – traumhaft. Die Bild-Zeitung hatte einmal mehr gezeigt, daß sie die beste Nase hat. Warum hätte auch das Millionenblatt nicht den momentan beliebtesten Entertainer der Republik fördern sollen?

Einem Mann hingegen scheint die Entwicklung vollständig entglitten zu sein: Ralph Siegel, seit 1976 der Mann für das Graue in den deutschen Grand-Prix-Beiträgen. Vor der Sendung schimpfte er über die Medien, die nur über Guildo Horn berichteten, über die Journalisten, die sich einspannen ließen für ein Lied, das er keineswegs billigen könne. Ein kindliches Wehklagen war dies, das beleidigt heulende Schluchzen eines ewigen Teenagers, dem die verhaßte Konkurrentin um den schönsten Boy das Schminktäschchen auf dem Klo der Disko versenkt hatte.

Denn hat Siegel nicht selbst jahrelang seine Beiträge in die Redaktionen lanciert, für sie jede mögliche Werbung gemacht und dabei fast jeden Anstand ignoriert? Erstmals seit Siegel beim Grand Prix mitmacht, kam keines seiner Lieder unter die ersten drei. Das war auch nur gerecht: Denn weder „Ball Haus“ noch „Sharon“ oder „Köpenick“ sangen Lieder, waren Produkte, die diesseits der Schmerzgrenze verhandelbar wären. Lieder waren das, die selbst Ältere nicht mehr hören wollen – schwung- und ideenlos, Karikaturen des Artifiziellen. Siegel muß nun die Strafe dafür zahlen, daß er jahrelang den Geschmack der partywilligen Jugend mißachtete. Als er Konkurrenz erhielt – wie dieses Jahr erstmals – war es um seine Seligkeit getan. Der Meister hat in Guildo Horn, Michael Holm und Stephan Raab sein Meistertrio gefunden.

Siegel will sich nun rechtliche Schritte überlegen, weil Horns Lied angeblich regelwidrig vorzeitig von einzelnen Radiosendern ausgespielt wurde. So wie 1976, als er schon einmal nicht sich geschlagen geben wollte, Toni Marshalls „Der Star“ aus dem Wettbewerb mobbte und dann selbst mit „Sing, Sang, Song“ von den Les Humphries Singers zum Zuge kam? Es würde ihm nichts nützen.

Müßte Horn abdanken, wären „Rosenstolz“ da. Wer aus dem Busineß würde es überhaupt wagen, Guildo Horn samt Entourage von der Reise nach Birmingham am 9.Mai abzuhalten? 62 Prozent aller Zuschauer wären sauer.

Aber was wissen die schon vom beißenden Kummer des geschlagenen Exmeisters, des Ralph Siegel aus München?