Die Leichtigkeit des Streiks

■ Die ÖTV protestiert und wird vor allem ihre Kunden verprellen

Ordentlich geht's zu, wenn der Deutsche streikt, zumal im öffentlichen Dienst. Bus- und Bahnfahrer zwängen sich in die obligatorischen Plastiktüten mit der PR-Offenbarung „Wir streiken“ oder präziser „Dieser Betrieb wird bestreikt“. Vorgefertigtes Transparent in die Hand gedrückt, Doppelposten rechts und links der Betriebstore, und fertig ist das landesübliche Streikszenario.

Andere Länder, andere Streikkulturen. In Frankreich gehen Arbeitslose auf die Barrikaden, an die Börse und ins Gourmetrestaurant und genießen derweil öffentliches Ansehen. In Italien nimmt man Streiks als Folklore, und in Deutschland – ärgert man sich. Frierende Streikposten ebenso wie die Arbeitgeber. Vor allem der Kunde ist sauer, wenn mal wieder alle (Bus-)Räder stillstehen. Vor ein paar Jahren demonstrierten streikende Straßenbahnfahrer in Lissabon, daß es auch anders geht. Alle Bahnen fuhren, nur wurden weder Fahrscheine verkauft noch kontrolliert. Ergebnis: lachende Gesichter beim Personal wie bei den Kunden. Der Streik war eine voller PR-Erfolg für Gewerkschaften und Streikende.

Auch um Solidarität braucht man sich bei solchen Aktionen kaum zu sorgen, Plastiküberwürfe und grimmige Streikposten sind überflüssig, die Streikkassen bleiben gefüllt, und ganz nebenbei fallen für den Bürger ein paar neue Argumente für den umweltgerechten Nahverkehr ab.

Werfen wir zum Vergleich einen Blick auf die ernüchternde Realität des anlaufenden ÖTV-Streiks in Berlin. Ab Montag werden Kindertagesstätten und Bezirksverwaltungen bestreikt, Dienstag folgen Busse und Bahnen. Das nennt man konsequente Zielgruppenarbeit.

Be- und getroffen sind der allseits benötigte und ansonsten umworbene Fahrgast, die ohnehin gestreßten alleinerziehenden Väter und Mütter sowie die sozial Schlechtgestellten. Auch der Zeitpunkt des Streiks hätte besser nicht gewählt werden können. Denn ab März werden die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) ihre Preise deftig anheben. Vor allem Auszubildende und die in den Randlagen der Stadt lebenden Nutzer öffentlicher Verkehrsmittel werden künftig kräftig zur Kasse gebeten. Zu den potentiellen Auswirkungen des „Lissaboner Modells“ war auf Nachfrage keine Stellungnahme von der BVG zu erhalten.

Micha Hilgers Bericht Seite 7

Der Autor ist Psychonanalytiker und lebt in Aachen