Die Niederlande wollen Radfahrer besser schützen. Nach einem Gesetzentwurf, über den noch in diesem Jahr abschließend beraten werden soll, haften bei einem Unfall zwischen motorisierten und nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmern künftig imm

Die Niederlande wollen Radfahrer besser schützen. Nach einem Gesetzentwurf, über den noch in diesem Jahr abschließend beraten werden soll, haften bei einem Unfall zwischen motorisierten und nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmern künftig immer die Auto- und Motorradfahrer.

Generalamnestie für Hollands Radler

Am Damplatz im Herzen von Amsterdam: Erschrocken springt ein Tourist zur Seite und läßt einen Radfahrer vorbei, der ihn vor Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett beinahe über den Haufen gefahren hätte. Ein paar Meter weiter flitzen Radler direkt vor einer Straßenbahn über die Gleise; quietschend und wütend bimmelnd kommt sie in letzter Sekunde zum Stehen.

Die „fietsers“ sind der Schreck aller Fußgänger und Autofahrer. Am berüchtigsten sind sie in Amsterdam, vor ihnen warnt sogar das Fremdenverkehrsamt der holländischen Hauptstadt in seinen Broschüren. Radfahrer ignorieren Einbahnstraßen und Stoppschilder ebenso wie rote Ampeln. Der Arm wird beim Abbiegen schon lange nicht mehr ausgestreckt, und ein Radfahrer mit Licht ist eine Seltenheit geworden; wegen der vielen Raddiebstähle fahren die meisten auf rostigen Drahteseln herum, die jeden Augenblick auseinanderzufallen drohen.

Aber statt ihnen Verkehrsmanieren beizubringen, so schimpfen viele Bürger, wird ihr lebensgefährlicher Fahrstil jetzt auch noch belohnt. So jedenfalls interpretieren viele Niederländer einen Gesetzentwurf, den Justizministerin Winnie Sorgdrager Ende letzten Jahres dem Parlament vorgelegt hat. Bei Unfällen zwischen motorisierten Verkehrsteilnehmern und Radfahrern oder Fußgängern soll künftig nicht mehr umständich die Schuldfrage geklärt werden. Es haftet automatisch der Auto- oder Motorradfahrer. Seine Versicherung muß für den Schaden aufkommen, ganz egal, ob er den Unfall verursacht hat oder nicht.

Nur wenn man dem schwächeren Verkehrsteilnehmner „böse Absicht oder tollkühnes Verhalten“ nachweisen kann, muß der Autofahrer nicht zahlen – zum Beispiel, wenn ein Radler mutwillig ein Auto beschädigt oder zu den Stoßzeiten bei Rot über die Ampel fährt. Kommt es jedoch zu einem Unfall, weil sich ein Radfahrer an einer grünen Ampel geirrt hat und nach links abbiegt, anstatt geradeaus weiterzufahren, muß der Autofahrer zahlen, denn es liegt ja keine böse Absicht vor.

Ministerin Sorgdrager geht davon aus, daß das Gesetz Ende 1998 in Kraft tritt. Die Versicherungsprämie für Autofahrer wird dadurch um durchschnittlich neun Prozent steigen, umgerechnet rund 50 Mark pro Jahr. Das sei wirtschaftlich zumutbar, findet sie. Die Versicherungsgesellschaften haben sich bereits darauf eingestellt. Die Beitragskürzung, die sich Autofahrer durch schadenfreies Fahren aufbauen, bleibt gewahrt: Unfälle, bei denen sie nachweislich keine Schuld trifft, werden ihnen nicht angerechnet.

Mit diesem Gesetz will Sorgdrager die Schwächsten im Verkehr besser schützen: „Es gibt Fälle, wo Menschen verletzt wurden, die jahrelang prozessieren müssen, damit ihnen zumindest ein Teil des Schadens ersetzt wird. Das muß ein Ende haben.“ Motorisierte Verkehrsteilnehmer stellten nun mal eine größere Gefahr dar als Nichtmotorisierte. Im Gegensatz zu Fußgängern oder Radfahrern gelte für sie sowieso bereits eine Haftpflichtversicherung. Alles in allem sei es deshalb nur recht und billig, sie bei entstandenen Schäden generell haftbar zu machen, auch wenn sie keine Schuld trifft.

Für die Gegner des Gesetzes kommt dies einem Freibrief zur Mißachtung sämtlicher Verkehrsregeln gleich. In den Meinungsspalten der Zeitungen lassen Autofahrer ihrer Empörung freien Lauf: „Mein Rechtsgefühl wird verletzt!“ schreibt ein Leser. „Der logische und selbstverständliche Zusammenhang zwischen Schuld und Haftbarkeit wird hier aufgehoben“, beschwert sich ein anderer. Und ein Straßenbahnfahrer wettert: „Diese Burschen führen die wildesten Manöver durch, uns dagegen erklärt man für vogelfrei.“

Beim ANWB, dem niederländischen ADAC, gingen Hunderte von Protestbriefen ein. „Viele Autofahrer verstehen es einfach nicht“, meint Mitarbeiterin Sylvia Luit. „Wie können sie für etwas haftbar gemacht werden, was sie nicht verschuldet haben?“ Der Automobilklub finde es prinzipiell gut, daß die Regierung Schwächere schützen will. „Aber was ist mit dem Schutz für Autofahrer?“ Eine Pflichtversicherung für alle Verkehrsteilnehmer gegen erlittenen Schaden wäre doch viel besser.

Dafür will sich der ANWB während der Parlamentsdebatte nochmals stark machen. Denn auch vielen Abgeordneten geht das Gesetz zu weit: „Wir müssen aufpassen, daß wir beim Versuch, die Schwächeren zu schützen, nicht übers Ziel hinausschießen“, gab eine Abgeordnete der linksliberalen D66 zu bedenken.

Die meisten Radfahrer jedoch sind hocherfreut: „Wie oft habe ich fast einen Herzinfarkt bekommen, weil ein Auto auf mich zuraste oder wenn direkt vor meiner Nase eine Autotür geöffnet wurde“, schreibt ein Mitglied des niederländischen Radfahrerbundes in einer Reaktion an seine Organisation. „Auch Autofahrer verletzen die Verkehrsregeln, aber wenn sie es tun, hat es weitaus ernstere Folgen.“ Ein anderer läßt seiner Schadenfreude freien Lauf: „Es besteht nun mal eine Ungleichheit zwischen Radfahrern, die wehr- und gewaltlos, lärm- und gestankfrei sind, und ihren potentiellen Killern: den gepanzerten, luftverschmutzenden, mit Sicherheitsgurt und Sicherheitshelm ausgestatten Auto- und Motorradfahrern.“ Das undisziplinierte Verkehrsverhalten der „fietsers“ sei nichts anderes als ein „Akt des Widerstands gegen den Terror der Motorisierten“, ein Versuch, „potentielle Killer zu provozieren und anzuklagen“. Kerstin Schweighöfer, Amsterdam