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Start mit zerstörtem Triebwerk

Im Flugsimulator in Schönefeld üben angehende Pilotinnen riskante Manöver: Startabbruch, null Sicht beim Anflug, Druckverlust in der Kabine. Erfahrung reicht, um richtige Passagiermaschinen zu fliegen  ■ Von Hannes Koch

Der Tower in Tegel gibt den Start frei. Dieter Müller-Danert, der Pilot des Urlauberjets mit 180 Plätzen, schiebt den Gasknüppel nach vorne – und wird in den Sitz gedrückt. Die beiden Düsentriebwerke brüllen, das Cockpit beginnt zu vibrieren, als die Maschine an Fahrt auf der Rollbahn gewinnt. Die Geschwindigkeit zum Abheben ist fast erreicht – da bricht das Flugzeug nach links aus und rast auf die Wiesen neben der Startbahn zu.

Rechts vom Piloten blinkt hektisch eine rote Lampe auf blauem Grund: „Engine fail“ – das linke der beiden Triebwerke ist ausgefallen. Schub weg, Dutzende von Handgriffen an Schaltern und Knöpfen, die Maschine rüttelt über die Grasnarbe, bis sie zum Stehen kommt. Doch Müller-Danert lächelt: „Wir starten jetzt aber trotzdem. Obwohl das kein Pilot machen würde.“ Schon wenige Minuten später sieht man unter dem Düsenklipper den Fernsehturm am Alex.

Müller-Danert kann es sich leisten, unprofessionell zu fliegen. Sein Flugzeug ist zwei Meter hinter ihm zu Ende. Und er ist auch nicht Pilot. Er studierte an der Verkehrshochschule in Dresden und hat noch nie einen Jet gesteuert. „Doch wenn die Crew während des Flugs krank würde, müßte ich mich wohl melden“, überlegt Müller-Danert, der sich zutraut, eine Maschine auch ohne reale Flugerfahrung heil zu landen.

Der 41jährige Diplomingenieur leitet den Betrieb des neuesten Flugsimulators am Flughafen Schönefeld. Das Lufthansa Simulatorzentrum (LSZ), hervorgegangen aus einer ähnlichen Einrichtung der DDR-Gesellschaft Interflug, hat zu den bisherigen fünf gerade einen sechsten Ausbildungsplatz hinzubekommen. Es ist neben einem Simulator im US-amerikanischen Seattle erst die zweite Anlage ihres Typs weltweit, auf der PilotInnen für die neue Ausführung des Verkehrsflugzeugs Boeing 737 geschult werden. Haben die Azubis das Training erfolgreich absolviert, dürfen sie richtige Flugzeuge steuern – ohne vorher ein einziges Mal im realen Cockpit gesessen zu haben.

Der Arbeitsplatz zweier PilotInnen ist erstaunlich eng, mühsam muß man sich über eine Zugbrücke zwischen Gashebel und Steuerknüppel in den Schalensessel zwängen. Der Blick aus den Fenstern des bis auf den letzten Knopf originalgetreuen Cockpits zeigt den Airport Tegel oder nach Belieben rund 100 andere Flughäfen der Welt – das alles in täuschend echter Computersimulation, die mittels eines komplizierten Projektionsverfahrens die Azubi-PilotInnen von allen Seiten umgibt und sie schnell die künstliche Situation am Rande der Schönefelder Hochhaussiedlung vergessen läßt.

Soll die Übung beginnen, klappt die Zugbrücke hoch: Jetzt steht das von außen wie der Körper einer Spinne anmutende Simulatorgehäuse nur noch auf sechs Teleskopbeinen in der Halle. Wird drinnen der Gashebel in Startposition geschoben, drücken die vorderen Beine die Spitze des Ausbildungsstandes in die Höhe. Die Menschen im Cockpit werden in ihre Sitze gepreßt – eine perfekte Suggestion der Startsituation.

Bei den verschiedenen Flugmanövern neigt sich die Spinne nach links, nach rechts, kippt ruckartig hinten ab oder schüttelt sich. „Der Simulator reagiert wie das Flugzeug“, sagt Müller-Danert. Die Herstellerfirma des 25 Millionen Mark teuren Gerätes weise mit „zehn Ordnern Diagrammen“ nach, daß im Vergleich zur realen Maschine keine Zeitverzögerungen auftreten.

Die Lufthansa bietet den Simulator gegenwärtig ausschließlich anderen Fluggesellschaften für 1.000 Mark pro Übungsstunde an, denn die bundesdeutsche Gesellschaft fliegt keine Boeing737. Rund 3.000 FlugschülerInnen können pro Jahr in vierstündigen Übungsschichten trainieren. Schon heute ist die Anlage fast ausgelastet, erklärt LSZ-Geschäftsführer Norbert Wechsel. 1997 arbeiteten die sechs Berliner Simulatoren bei einem ungefähren Umsatz von 30 Millionen Mark mit Gewinn. Um auch in Zukunft schwarze Zahlen zu erreichen, wäre es trotzdem „ein großer Gewinn, wenn Schönefeld mehr angeflogen würde“, meint Dieter Müller-Danert. Den normalen Flugbetrieb würden die Gesellschaften dann nämlich mit der Ausbildung ihres Personals verknüpfen. Das Simulator-Zentrum ist also abhängig von der Entwicklung des südlichen Flughafens. Gleichzeitig ist sein Ausbau ein Hinweis, daß die Lufthansa mit ebendieser Aufwertung Schönefelds zum wichtigsten Airport Berlins rechnet. In Tegel und Tempelhof stehen keine Simulatoren. Weitere Schulungszentren betreibt die Lufthansa in Frankfurt am Main und Bremen.

Bei den Übungen geht es oft um Ausnahmefälle. Müller-Danert: „80 Prozent der Zeit fliegen sie mit nur einem Triebwerk.“ Auch wenn derartige Unfälle selten vorkommen – die Piloten müssen wissen, wie es sich anfühlt, um im entscheidenen Augenblick richtig reagieren zu können. Auch andere Katastrophenszenarien werden gern geübt: Das Flugzeug schmiert beim Landeanflug auf Madeira, einen der gefährlichsten Airports, ab, in 12.000 Meter Höhe verliert die Kabine Druck, oder bei null Sicht fällt der Autopilot aus.

Für alle diese Effekte ist eine Computeranlage verantwortlich, die wegen ihrer Dimensionen aus den fünfziger Jahren, der Zeit der begehbaren Rechner, zu stammen scheint. Ein großer Raum ist vollgestopft mit Hardware, die Regen, Windböen, geplatzte Reifen samt Geräuschen und alle erdenklichen Reaktionen eines riesigen Düsenflugzeugs simuliert. Auch Situationen, die es in Wirklichkeit nicht gibt: Im verbotenen Tiefflug über Berlin ist die Boeing737 in gefährliche Schieflage geraten, droht hinter dem Schloß in die Spree zu stürzen. Alle Warnlampen blinken. Da hält Simulatorleiter Müller- Danert das Programm an – und befördert den virtuellen Urlauberjet zurück auf die imaginäre Rollbahn.

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