■ Nach Gerhard Schröders Sieg scheint die SPD klar zur Wende zu sein. Doch unklar ist, wohin die Sozialdemokraten eigentlich wollen
: Welche neue Mitte?

Besser hätte es kein Regisseur inszenieren können. Als der Sieger auf der Bühne erscheint, räumen die Generalsekretäre von CDU, CSU und FDP das Feld, trollen sich beleidigt fort von der Bonner Runde. Die Stimmung hat sich verändert an diesem 1. März. Zwei Lektionen erteilt Gerhard Schröders Triumph Siegern und Besiegten, und drei Fragen werden morgen über Sieg oder Niederlage entscheiden.

Gerhard Schröder hat neue Wähler, insgesamt 270.000, aus allen Richtungen gewonnen, das sozialdemokratische Altmilieu mobilisiert und das rot-grüne Wählerspektrum erweitert. Politische Mehrheiten, das ist die erste Lektion, sind nicht zu haben als Exekution von Beschlußlagen und als Addition von Gruppen und Milieus. Sie sind nur zu gewinnen von Politikern, die eine gewisse Distanz zu ihrer eigenen Partei haben, die direkte Kommunikation zu den Wählern suchen und jenseits alter Orthodoxien, der marktradikalen wie der sozialdemokratischen, sich unbekümmert an die Probleme machen – oder wenigstens glaubwürdig so tun.

Das alles ist übrigens ein Kompliment an die Demokratie, in der ja die Wähler und nicht Parteigremien das Sagen haben sollen. Der Wunsch nach nach einem anderen Kanzler hat die SPD fast in die Nähe von CSU-Ergebnissen gebracht und Freude aufkommen lassen wie seit 1972 nicht mehr. Schröder hat ein neues Gefühl, aber keine neue Politik vermittelt – ein ziemlich gelungener Klon zwischen Tony Blair und Helmut Kohl.

Offenbar, und das ist die zweite Lektion, wollen die Deutschen jetzt andere Gesichter sehen und eine andere Rhetorik hören. Aber wollen sie auch eine andere Politik oder lieber, solange es noch geht, die alte, sozial etwas dezenter aufgetragen? Die Bundestagswahl wird durch die Personenfrage, aber auch durch die Themen entschieden. Arbeitslosigkeit, Wirtschaftsdynamik, Reform des Sozialstaats, Steuerreform: Auf keinem dieser Gebiete ist die SPD bisher durch originelle, zukunftstaugliche Vorschläge aufgefallen. In den USA gab es, vor Clintons Sieg, die „neuen Demokraten“, in Britannien, vor Blairs Triumph, „New Labour“, hier gibt es noch immer die alte Sozialdemokratie. Reicht das, wird sich daran, vor oder nach der Wahl, etwas ändern?

Und damit beginnen die Fragen. Zum Beispiel die Frage nach den Reformen. Mit dem Stichwort „Modernisierung und soziale Verantwortung“ knüpft Schröder ausdrücklich an den Wahlkampf 1969 an: „Wir schaffen das moderne Deutschland“, hieß es damals. Psychologisch verständlich, politisch fatal. Damals hatten die Reformen noch Geld. Der Glaube an den Staat war noch wenig erschüttert; innere Reformen in der Bildung und im Ehe- und Familienrecht verstanden sich von selbst. Dem Fortschrittsglauben wohnte noch ein gewisser Zauber inne.

Wer dagegen heute die allfälligen Reformen als Endmoränen der sozialliberalen Ära begreifen und betreiben wollte, der müßte über kurz oder lang scheitern. Oder die Frage nach dem Bündnis für Reformen. Rot-Grün hat ja seinen politischen Charme auch für große Teile der eigenen Anhänger längst verloren. Von keiner der zahlreichen Länderkoalitionen fiele irgendein Glanz in die künftige Bonner Hütte. Die Hoffnungen auf ein sozialökologisches Reformbündnis ruhen wenig sanft nicht nur in der Grube von Garzweiler. Was aber für den Wahlkampf schwerer wiegt: Zum ersten Mal bietet sich ein Reformbündnis links von der Mitte an, bei dem die beiden Parteien die wechselseitigen Ängste und Vorbehalte, die die Wähler haben, nicht korrigieren, sondern verstärken. In der sozialliberalen Koalition 1969 durfte man hoffen, daß die FDP schon das notwendige Maß an ökonomischer Vernunft einbringen werde. Wer sich dagegen heute fragt, wie ökonomische Disziplin und soziale Phantasie gegen sozialdemokratisches Urgestein eine Chance haben sollen, der wird durch Grüne wie Trittin und Ludger Volmer auch nicht gerade heiterer gestimmt. Bleibt am Ende nur noch Schröder als doppeltes Korrektiv: gegen seine eigene Partei und gegen die Grünen. Ob das auf Dauer gutgeht?

Schließlich die Frage nach der neuen Mitte. Auch das eine Lieblingsvokabel des erfolgreichen Kandidaten, aber auch das eine Formel nur, noch kein politischer Begriff. Bei der guten alten Mitte wußte man wenigstens noch, wo und woran man war: irgendwo zwischen den Extremen von rechts und links. Dann kamen, nach 1945, die diversen Unionen (zwischen Protestanten und Katholiken) und Partnerschaften (zwischen Kapital und Arbeit) dazu, und so formten sich mächtige Volksparteien der Mitte. Schließlich entdeckten CDU wie SPD die leitenden Angestellten, die neue Mittelschicht, die technische Intelligenz und neuen Selbständigen und sprachen, in der alten Logik, von einer „neuen Mitte“ – um die schmerzlichen Fragen nur weiter verdrängen zu können. Will und verträgt die SPD wirklich Vielfalt und Freiheit der Optionen jenseits des alten sozialdemokratischen Wertekanons?

Was heißt und verlangt Gleichheit in Zeiten, in denen auch durch die sozialen „Errungenschaften“ der Vergangenheit bald fünf Millionen draußen vor der Tür stehen, in denen das staatliche Hochschulwesen die Kosten für Bildung sozialisiert und die Privilegien der Bildung privatisiert, und das alles unter „progressiven“ Vorzeichen? Ein Begriff der „neuen Mitte“ ist nicht länger zu gewinnen durch Subtraktionen (der Extreme) und Additionen (aller möglichen sozialen Gruppen), und die Wähler der neuen Mitte sind nicht zu gewinnen, indem man sie von „Zielgruppen“ abholt und einsammelt. Die neue Mitte verlangt eine schöpferische politische Leistung: die Rekonstruktion von Freiheit, Gleichheit und Bürderlichkeit und der Institutionen, die diese Prinzipien getragen haben. Darum geht es. Doch davon ist nichts zu merken, auch bei Schröder nicht.

Und die CDU? Noch regiert sie ja. Daß sie es nach der Wahl noch tut, ist wenig wahrscheinlich geworden, unmöglich ist es nicht. Eine Kandidatendiskussion (Kohl/ Schäuble) wird es nicht geben, niemand hätte einen Vorteil davon. Der Wunsch nach einem anderen Kanzler freilich und die Restsorge vor einer rot-grünen Regierung könnten bewirken, was politisch keusche Herzen nicht zu sagen wagen: eine große Koalition. Gerhard Schröder hätte sich, so oder so, die Ehrenmitgliedschaft der CDU verdient. Schließlich hätte er sie, bevor es vollends zu spät ist, von einem Problem befreit, an dem sich viele vergeblich versucht haben. Warnfried Dettling