Hollywood gleichsam durch die Hintertür

■ "In meinen Filmen geht es immer um Familie", sagt Atom Egoyan, der Regisseur von "Das süße Jenseits". Auch seine Filmcrew stellt für ihn inzwischen eine Art Familie dar, ein festes Ensemble, das ihm

Am Anfang ist der Tod. Die Filme von Atom Egoyan fangen oft erst an, wenn alles schon vorbei ist. Seine Figuren erstarren in Trauer, die Erkenntnis trägt bei ihm Schwarz. In „Das süße Jenseits“, dem neuen Film des kanadischen Regisseurs armenischer Abstammung, nimmt der Verlust monströse Ausmaße an: Ein Schulbus kommt von der Straße ab, ein ganzes Dorf verliert seine Kinder. In einem komplexen Geflecht einander überlagernder Rückblenden enthüllt Egoyan Lebenslügen und Todesängste seiner Protagonisten – die dörfliche Solidargemeinschaft zerbricht unter Schmerz und Wut, Lug und Trug.

taz: Leitmotivisch durchziehen die Verse von Robert Brownings „Magic Piper“ Ihren neuen Film. Ist es nicht ein bißchen zu einfach und zu archaisch gedacht, durch das Rattenfängermärchen die Themen Verlust und Vergeltung anzugehen?

Atom Egoyan: Archaisch, ja. Einfach, nein. Als ich am Drehbuch gearbeitet habe, las ich es eines Abends meinem Sohn vor. Es ist interessant, wie Kinder darauf reagieren. Die fragen sich, weshalb der Rattenfänger sich nicht einfach mit den magischen Kräften der Flöte den ihm zustehenden Lohn holt. Die Idee der Rache ist Kindern fremd, weshalb sich vielleicht nur Erwachsenen die volle Bedeutung des Märchens erschließt. Darum geht es ja in „Das süße Jenseits“: um Verlust und Vergeltung. An so was wie Schicksal mag ich nicht glauben – dieser Film handelt von der Schuld.

Und die tragen bei Ihnen die Erwachsenen. Es herrscht gleichsam Krieg zwischen Eltern und Kindern, genauer: zwischen Vätern und Töchtern.

Stimmt, es gibt diesen Rechtsanwalt, der seine drogenabhängige Tochter im Stich läßt, und es gibt diesen Dorfbewohner, der eine Liebesbeziehung mit seiner Tochter hat. Bei beiden ist das Verhältnis zum Kind aus der Balance geraten, beide können nicht damit umgehen, daß sie zu sexuellen Wesen heranwachsen. Weshalb sich die Töchter auf selbstzerstörerische Weise an ihnen rächen.

Der Inzest findet bei Ihnen im warmen und gedämpften Licht des Kerzenscheins statt. Halten Sie das nicht für problematisch?

Ich mußte mich für die angesprochene Szene schon häufig rechtfertigen. Immer wieder wurde ich gefragt, ob ich denn glaube, daß das minderjährige Mädchen in den Inzest eingewilligt habe. Und ich sage: Ja, natürlich! Über die psychologische Konditionierung durch den Vater, die hierbei eine Rolle spielt, muß man selbstverständlich sprechen, aber erst mal gibt es eine Einwilligung. Durch sie wird die Tochter zu einer ernstzunehmenden Figur. Das ist einigen Leuten zu kompliziert. Die wollen sehen, wie sich die Tochter wehrt, sonst fällt es ihnen schwer, moralische Urteile zu fällen. Ich möchte nicht mißverstanden werden: Auch ich behaupte, daß die Tochter ein Opfer ist – sonst könnte sie ja auch nicht diese enorme Wut entwickeln.

Eine der Lehren, die man aus Ihren Filmen ziehen könnte, lautet: Glaube nie, was du zu sehen glaubst! Immer wieder zeigen sie eine Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit, nichts ist bei Ihnen so, wie es auf den ersten Blick scheint.

Ich liebe es, Erwartungen zu wecken. Es gibt ein bestimmtes Register an Verweisen, mit dem ich den Zuschauer in eine bestimmte Richtung bringen kann. Ich locke ihn auf die falsche Fährte, um ihm dann – etwa durch Rückblenden oder Gegenschnitte – die Wahrheit zu zeigen. Klar, das ist ein Riesenspaß, gleichzeitig aber auch narrativ sehr wichtig. Denn nachdem das Publikum gemerkt hat, daß es sich in dem Charakter getäuscht hat, ist es ihm um so mehr zugetan. Natürlich spielt auch hier die Idee der Schuld eine große Rolle. Das ist wie mit der Hauptperson aus meinem vorherigen Film, „Exotica“: Du siehst, wie der Typ in einer Bar einer Stripperin zuschaut, die als Schulmädchen verkleidet ist, später steckt er einem Mädchen in seinem Auto Geldscheine zu. Und als er dann auch noch Grüße an ihren Vater ausrichtet, denkst du: was für ein Schwein! Aber natürlich ist alles ganz anders, und die Tragik dieses Menschen, der alles verlor, was er geliebt hat, erschließt sich darauf noch stärker.

Wenn an irgendeiner Uni ein Seminar zum Thema „Postmoderne und Kino“ läuft, kann man sich sicher sein, daß auch ein Film von Atom Egoyan gezeigt wird. Dabei bringen Sie gleichsam durch die Hintertür das klassische Erzählkino zurück. Sie hintertreiben zwar konventionelle Erzähltechniken, aber nur um den Menschen und ihren Geschichten noch näher zu kommen.

Das stimmt. Was man die letzten Jahre im Film postmodern genannt hat, nervt mich gewaltig. Da geht es immer nur darum, bestimmte Figuren zu dekonstruieren, ich aber versuche die verschiedenen Teile zu einem Ganzen zusammenzusetzen. Das eine ist nur eine akademische Übung, das andere eine emotionale Anforderung. Ich will unverbrauchte Möglichkeiten entwickeln, wie man die emotionalen Erfahrungen von Menschen darstellt. In „Das süße Jenseits“ zum Beispiel sehen wir aus der Perspektive eines Vaters, wie in der Ferne der Schulbus im vereisten Fluß versinkt. Seine Kinder sterben, aber der Mann kann nichts tun. Um ihn herrscht Stille, und diese Stille ist schrecklicher als der größte Radau. Wäre der Film in Hollywood entstanden, hätte ich mit der Kamera in den Bus steigen müssen und schreiende Kinder und splitterndes Glas aufnehmen müssen. Wie lächerlich.

Gegen die Verlockungen Hollywoods scheinen Sie immun zu sein. Nach dem Erfolg von „Exotica“ gab es eine Menge Angebote. Warum drehen Sie – mit relativ geringem Budget und wenig variierendem Team – weiter in Kanada?

In meinen Filmen geht es immer um Familie, und meine kleine Crew stellt inzwischen eine Art Familie für mich dar. Natürlich besteht die Gefahr, wenn man jahrelang mit den gleichen Leuten zusammenarbeitet, daß man die Welt da draußen aus den Augen verliert – weshalb ich froh bin, daß wir eine Größe wie Ian Holm gewinnen konnten. Ansonsten aber habe ich auch diesmal mit meinen alten Freunden zusammengearbeitet. Dieses Ensemble gibt mir eine enorme Sicherheit. Ich weiß, wie sich die einzelnen Schauspieler einsetzen lassen. Was nicht heißt, daß ich nach bestimmten Typen besetze. Weil ich diesen Menschen so nah bin, kann ich mit ihnen gefahrlos neue Sachen ausprobieren. In Hollywood könnte ich nicht mit einem solchen Ensemble zusammenarbeiten. Da würde nicht genug Zeit bleiben, die Schauspieler ihre Rollen entwickeln zu lassen. In Hollywood guckt der Regisseur auf Zeitpläne und checkt auf dem Monitor, ob alles im Kasten ist. Ich hingegen kann nicht genug davon kriegen, meinen Schauspielern ins Gesicht zu schauen.

Ihre Filme folgen stets einer ganz eigenen Melodie. Die verschachtelten Rückblenden, durch die in „Das süße Jenseits“ die verschiedenen Figuren eingeführt werden, sind gleichsam musikalisch angelegt. Wie ein Song zu seinem Refrain zurückkehrt, so zeigen Sie immer wieder die Unglücksfahrt des Schulbusses.

So habe ich das noch gar nicht gesehen. Aber es stimmt: Die Szenenabfolge muß rhythmisch stimmen. Das war diesmal besonders wichtig, da ich nicht die Erfahrung eines einzelnen Individuums zeigen wollte, sondern die Psyche einer Gemeinschaft. Musik ist da ein wichtiges strukturelles Element, denn in keiner anderen Kunstform wird derart stark auf Wiederholung gesetzt. Apropos: Die Wiederholung bestimmt natürlich auch das Dasein aller Figuren in meinen Filmen. Sie leben nach ihren eigenen Ritualen. Die erscheinen dir auf den ersten Blick sehr simpel, haben aber natürlich eine tiefe Bedeutung, und die will ich erschließen. Als Regisseur ist man ja auch immer ein bißchen Anthropologe. Interview: Christian Ruß