„Und bloß nicht abrutschen“

Weil sie nicht als „Treppenterrier“ anheuern wollen und wissen, was sie wert sind, gehen die arbeitslosen Schwestern Marion Knabe und Herma Nippe heute auf die Straße  ■ Aus Berlin Constanze v. Bullion

Zum Krieg gehört die Kriegsbemalung. Ein bißchen Lack für die Nägel und reichlich fürs Haar, kräftiges Rouge auf die Wangen und stählernes Blau auf die Wimpern. „Ohne Kriegsbemalung wird man da gar nicht wahrgenommen“, sagt Marion Knabe und steigt in ihre Lederhose. Der Absatz darf heute ein bißchen höher sein, der Gang einen Zacken resoluter, ein guter Panzer ist eben alles auf dem Weg zur Front.

Drei Stufen stapft sie hoch, holt einmal tief Luft, da ist sie auch schon mittendrin. Arbeitsamt Berlin-Marzahn heißt das Feld, auf dem sie sich alle drei Monate herumschlägt. Mit „diesen Weibern“ auf der anderen Schreibtischseite, die sie „abfertigen wie eine Nummer“. Und mit ihrer eigenen Wut. Marion Knabe ist Bauzeichnerin, ist 41 Jahre alt und seit drei Jahren arbeitslos. Kein Grund zur Kapitulation? Aber einer, um Ärger zu machen: „Ich habe schließlich auch noch 'ne Ehre.“

Jammern reicht nicht, haben 40.000 Arbeitslose aus der ganzen Republik vor vier Wochen erklärt. Heute demonstrieren sie wieder. Dampf ablassen, heißt der Zweck der Übung, denn daß es neue Jobs regnen könnte, wenn man nur oft genug danach ruft, das glaubt keiner mehr. Gut 4,8 Millionen Arbeitsplätze fehlten Anfang Februar. Anfang März hat sich das nicht geändert. Neuer Rekord, Talsohle erreicht, saisonbedingter Trend: Die Phrasen aus Bonn sind austauschbar, die Botschaft ist unmißverständlich. Wer jetzt keinen Job hat, findet keinen mehr. Es sei denn, er ist zum Abstieg bereit.

„Bin ich aber nicht“, sagt Marion Knabe und läßt sich auf ihr ockerfarbenes Ledersofa fallen. Die Kriegsbemalung hat sie abgewaschen, die Lederhose mit einer Jeans vertauscht, eigentlich könnte es jetzt richtig gemütlich werden zwischen den sonnengelben Tapeten ihrer Dreiraumwohnung, mittendrin in der Marzahner Platte. Doch nach dem selbstbewußten Auftritt beim Arbeitsamt macht sich erst mal Katzenjammer breit. Drei Stunden hat Marion Knabe gewartet, bis ihre Nummer aufgerufen wurde. Der Rest war hohles Ritual. „Wenn ich sehe, wie ungeschminkt die meine Arbeitslosigkeit verwalten, bin ich erst mal eine halbe Stunde lang geknickt“, sagt sie und gießt ihrer Schwester einen Kaffee ein.

Bange machen gilt nicht, sagt die jetzt erst mal und erzählt von ehemaligen Kollegen, die diesmal auch zur Demo der Arbeitslosen kommen wollen. Herma Nippe ist neun Jahre älter als Marion und noch länger ohne Job. Ihre Berliner Kodderschnauze aber haben sich beide Schwestern bewahrt, und wer sie da so nebeneinandersitzen sieht, denkt eher an Witze reißende, ungezogene Schulmädchen als an langzeitarbeitslose Frauen über vierzig.

Daß sie womöglich nie mehr einen gutbezahlten, interessanten Job kriegen sollen, das wollen die beiden einfach nicht glauben. Dazu haben sie zu lange und zu gern gearbeitet.

Von einer LPG bei Frankfurt (Oder) stammen die Schwestern. Herma, die ältere, ist ziemlich früh „stiftengegangen“, sie wollte sich die Sauforgien ihres Vaters nicht länger anschauen. Sie ging weg von der Familie mit sieben Kindern und ließ sich zum „Facharbeiter für Saatgut“ ausbilden. Marion lebte da schon bei ihren Adoptiveltern. Die boten ihr ein Leben wie im DDR-Bilderbuch. Mutter Arbeitsrechtlerin beim FDGB, Vater Berufsschullehrer, „beide fachlich und ideologisch von der Partei geschult und voller Dankbarkeit“. Sie selbst sei „schon kritischer“ gewesen, erzählt die Hochbauzeichnerin, die „nie in der SED“ war. Obwohl sie einer FDJ-Initiative ihre Karriere verdankte.

Handverlesene Nachwuchstalente aus allen Landesteilen der DDR brachte man Anfang der siebziger Jahre in die Hauptstadt, um sie beim Bau neuer Trabantenstädte einzusetzen. Quadratisch- praktische Betonriesen zwischen geräumigen Parkplätzen wurden am Ostrand Berlins aus dem Boden gestampft. Den Plattenbau in Marzahn, an dessen Grundriß Marion Knabe mitgezeichnet hat, bewohnt sie noch heute – und betrachtet das als Privileg.

„Das ist mein Kiez, aus dem will ich nicht raus“, sagt sie vergnügt und zeigt aus dem Fenster. Nichts gibt es da unten, was den Augen von Ortsfremden schmeicheln könnte. Nur wenige Büsche und junge Bäume zwischen Schnellstraßen und himmelhohen Häuserblocks, die Jugend hier tendiert nach rechts, die Arbeitslosenquote nach oben. Man muß den Laden schon etwas länger kennen, um die Leute auszumachen, die zwischen Frittenbuden und Einkaufscontainern den Kopf oben behalten. „Hier herrschen fast familiäre Verhältnisse“, versichert Marion Knabe, „alles ordentliche Leute vom Professor bis zur Putzfrau, die sich eben auch mit der Welt identifizieren, in der wir beide verwurzelt sind“. Und die Wolga-Deutschen im Haus, sagt sie, „die bemerkt man gar nicht“.

Man spricht deutsch in Marzahn und hält zusammen. Wenn gelästert wird, dann über die anderen, die Westler, die Fremden. Seit sie aufgetaucht sind, ist jeder sechste Marzahner weg vom Betriebsfenster. Ein Ausländer = ein Arbeitsplatz, diese Formel kann hier jedes Kind herbeten. Daß sie nicht aufgeht, wissen die Schwestern Knabe und Nippe genau. „Die Ausländer können ja nichts dafür“, sagt Marion, „aber wenn hier in Berlin überhaupt noch gebaut wird, dann kriegen Westfirmen den Auftrag. Die holen sich dann für ein paar Mark Portugiesen oder Rumänen. Da könnte ich ausrasten.“

Zugegeben, ein rumänischer Bauarbeiter hat wenig mit dem zu tun, was Marion Knabe auf den Wohnzimmertisch legt. Vorsichtig faltet sie einen steifen Papierbogen auseinander, auf den mit feinen Tintenstrichen eine moderne Kirche gezeichnet ist. Sie hatte diesen Entwurf bei einem Wettbewerb in Bremen eingereicht; Jahre vor der Wende war das eine ziemlich exklusive Angelegenheit. „Ich kriege heute noch 'ne Gänsehaut, wenn ich das sehe“, sagt die Bauzeichnerin und packt den Plan eilig wieder zusammen, „da möchte man am liebsten gleich wieder loslegen.“

Es ist das knisternde Papier, der Schwatz mit den Kollegen „bei Kalle auf'm Garten“, vor allem aber die Anerkennung, die ihr fehlt. „Um mich wurde gepokert als Zeichner“, sagt Marion Knabe, und es klingt nicht nach Angeberei. 1980 holte man sie an die Ostberliner Bauakademie: „Nicht, weil ich Parteimitglied gewesen wäre, sondern weil ich gut zeichnen konnte.“ Eine Handvoll hochqualifizierter Architekten, Ingenieure und Konstrukteure übernahmen Aufträge von der Backsteinkirche bis zur Bonzenvilla. Sie seien gut gewesen damals, und gäbe es sie noch, „könnte so manches Büro heute zumachen“.

Zugemacht hat dann aber nicht nur ihr Büro in der Bauakademie, sondern die gesamte DDR. Am Abend des 9. November 1989 saß Marion Knabe in Berlin-Marzahn vor dem Fernseher und hat geheult. Sechs Monate lang setzte sie keinen Fuß über die ehemalige Grenze. Ganz anders Herma Nippe. Die fuhr am Morgen nach dem Mauerfall mit Mann und Tochter nach Kreuzberg – und war „entsetzt“. Bronx, hat sie gedacht, Ghetto, „das war das Schlimmste, was es für mich gab“. Na ja, hat Herma Nippe sich dann überlegt, wahrscheinlich wird die Grenze bald wieder zugemacht.

Das wurde sie nicht, was Nippe den Job kostete. Von der Saatgut- Laborantin hatte sie sich bis 1989 zur Sachbearbeiterin im DDR- Außenhandel hochgearbeitet. Um Bleche, Rohre, Lkws und Bankbürgschaften ging es da. „Immer fünf vor zwölf alles zu organisieren“, sagt sie, „das hätte ich bis zu meinem Lebensende machen können.“ Doch mit dem DDR-Außenhandel war Schluß. Nippe bewarb sich als Sekretärin im Westberliner Stadtteil Wedding. 1992 machte auch dieser Laden dicht, seither kämpft sie gegen den Abstieg. Der hat viele Gesichter.

Manchmal sind es die platinblonden Haare und die blasierten Mienen der Damen vom Arbeitsamt, die Herma Nippe zur Weißglut bringen. Manchmal ist es die Ohnmacht, die sie beschleicht, wenn mal wieder einer versucht, ein Geschäft mit ihr zu machen. Der Büroleiter etwa, der ihr einen staatlich subventionierten Job deutlich unter dem Fördergehalt andrehen wollte. Oder der Versicherungsmakler, der sie „als Treppenterrier anheuern“ wollte, als Versicherungsvertreterin auf ungewisser Provisionsbasis. „Bloß nicht abrutschen“, hat Herma Nippe immer gedacht, hat nein gesagt und ihre Sorgen runtergeschluckt – um wieder bei den platinblonden Damen zu landen.

Oder beim Blutspenden zum Beispiel. Sie lassen Kräutertees und Hausmittelchen an sich testen und machen für ein paar Mark Meinungsumfragen mit. Denn das Haushaltsgeld reicht schlicht nicht mehr. Und sie wundern sich auch nicht mehr über jene Leidensgenossen, die heimlich anfangen zu mogeln: Die einen halten neuerdings den Mund, wenn ihnen im Laden zuviel rausgegeben wird. Andere arbeiten schwarz auf dem Bau oder schummeln bei der Steuererklärung. Wieder andere gehen dazu über, Briefmarken und Fahrkarten durch den Farbkopierer zu jagen, um ein paar Mark zu sparen. Alles kleine Fische – und alles brave Bürger, die ihre kleine Rache nehmen an einem Staatswesen, das ihnen bis heute fremd geblieben ist.

Marion Knabe, die Bauzeichnerin, ist viel zu stolz, um zu klagen. Da ist die Tochter, die sie allein erzieht, da sind die Freunde, die sie oft trifft: Keine Zeit bleibt da für Zukunftsängste. Locker, „schon fast zu locker“ hat sie die Wende auf dem Arbeitsmarkt genommen, kam 1991 in einem Architekturbüro unter. „Wir waren hochqualifiziert, alle wollten uns haben“, erinnert sie sich. Bis ihr Chef einmal „dumme Tussi“ zu ihr sagte. Sie hat es sich nicht gefallen lassen, er hat sich entschuldigt, drei Monate später war sie draußen. Marion Knabe hat ihn verklagt und gewonnen, einen festen Job konnte sie nicht mehr finden.

Die Kompromisse blieben nicht aus. Sie machte Überstunden in einer Firma für Fertighäuser und brachte sogar ihre Tochter mit ins Büro – vergeblich. Immer wieder arbeitete sie auf Probe und zum Nulltarif, gab schließlich selbst Anzeigen auf. Die stießen auf lebhaftes Interesse. Allerdings nur bei Männern, die sie fragten, wie es denn mit Sex sei. „Das sind Situationen“, sagt sie, „da träumst du von. Arbeitslos zu sein, das ist wie mit dem Krieg. Erst ist er weit weg, im Fernsehen, und plötzlich kommt er in deinem Wohnzimmer an.“

Was bleibt? Nein zu sagen zu Angeboten, die keine sind. Die Nase zu rümpfen, statt Kummer zu haben. Austeilen, um nicht einstecken zu müssen. Heute ist Demo, und heute wird Radau gemacht. Morgen geht der Krieg weiter auf dem Arbeitsamt Marzahn. Marion Knabe hat eine Umschulung angeleiert, ihre Schwester geht für 520 Mark zu einer Versicherung. „Immer noch besser, als zu Hause im Elend zu sitzen“, sagt sie, „jetzt geht es einfach um die Existenz.“