Für die Freiheit ist jedes Opfer recht

Mit dem Massaker an einer albanischen Großfamilie hat der Konflikt im Kosovo einen neuen Höhepunkt erreicht. Im Kampf für ihre Unabhängigkeit von Belgrad sind viele Kosovo-Albaner jetzt zum Äußersten entschlossen  ■ Aus Likoshan Gregor Meyer

Zehntausende Menschen säumen den sanft gewellten Hügelhang, der die beiden Dörfer Qirez und Likoshan (40 Kilometer westlich von Priština, der Hauptstadt des Kosovo) voneinander trennt. Schweigend sitzen sie in der milden Frühlingssonne. Vor ihnen, mit albanischen Fahnen bedeckt, sind die Opfer des Massakers aufgebahrt, das serbische Spezialpolizei am Wochenende in den beiden Dörfern verübt hatte.

In den Ansprachen wird immer wieder der Name des Präsidenten der von den Albanern einseitig proklamierten Republik Kosovo genannt: Ibrahim Rugova. Sobald der Name fällt, reckt die Menge ihre Finger zum Victory-Zeichen gespreizt in den Himmel. Und aus Zehntausenden Kehlen tönt es am Ende jeder Rede: „Lavdi!“ – Ruhet in Frieden!

Der blutige Konflikt im Kosovo hat bereits Dutzende Todesopfer gefordert. Die Albaner, die 90 Prozent der Bevölkerung in der Region ausmachen, haben die serbische Herrschaft satt. Bislang wehren sie sich vor allem mit Mitteln des zivilen Widerstands, wie einem parallelen Bildungssystem, gegen den serbischen Besatzungsterror. Die paramilitärisch organisierte und ausgerüstete serbische Polizei jedoch provoziert, prügelt, foltert und verhaftet wie eine Okkupationsarmee.

Erst am vergangenen Montag ging sie mit ausgesuchter Brutalität in Priština gegen friedliche Demonstranten vor, die lediglich ein Ende der Gewalt forderten. Seit Sommer 1996 agiert außerdem eine mysteriöse Kosovo-Befreiungsarmee (UCK), die durch gezielte Anschläge auf Polizeistationen, serbische Polizisten und vermeintliche albanische „Kollaborateure“ auf sich aufmerksam macht.

Doch mit den mindestens 24 Toten von Qirez und Likoshan hat das Blutvergießen eine neue Qualität erreicht: Im jahrelangen Konflikt um den Kosovo ist nun das erste Massaker zu verbuchen. Offizielle serbische Berichte versuchen das Blutbad als Ergebnis eines bewaffneten Zusammenstoßes zwischen UCK-Guerilleros und der serbischen Polizei darzustellen. Tatsächlich gingen dem Schlachten, wie Dorfbewohner bestätigen, Scharmützel zwischen Unbekannten in UCK-typischem Outfit (Tarnanzüge, Vermummung) und der Polizei voraus, bei denen vier Polizeiangehörige starben. Doch die vermummten Angreifer verschwanden wieder, während die unmittelbar danach einrückende Spezialpolizei, unterstützt von Panzern und Helikoptern, zu morden begann.

Und das offenbar mit System. In Likoshan wurden sämtliche männlichen Mitglieder der Familie Ahmeti umgebracht. Die elf Jugendlichen und Männer im Alter zwischen 16 und 50 wurden auf dem Hof vor ihrem Haus systematisch zu Tode geprügelt. Der 25jährige Illir, der sich auf dem Dachboden des Nachbarhauses versteckt hatte, wurde Ohrenzeuge des grausigen Schauspiels. „Verschwendet keine Kugeln für diesen Abschaum“, habe er die serbischen Polizisten sagen hören, erzählt er.

Die Ahmetis waren die reichste und angesehenste Familie im Ort. Das Familienoberhaupt war bis zur Abschaffung der autonomen Verwaltung im Jahre 1989 Bürgermeister der Großgemeinde Glogovač, zu der die beiden von dem Massaker betroffenen Dörfer gehören. Auch in Bosnien hatten die „ethnischen Säuberungen“ damit begonnen, jene Familien, die die Dorfgemeinschaften zusammenhielten, zu liquidieren.

Durch das Massaker von Qirez und Likoshan ist der Spielraum für eine friedliche Beilegung des Kosovo-Konflikts erneut enger geworden. Denn die Geduld der Kosovo-Albaner, die sich nach fast zehnjähriger serbischer Okkupation sowieso nichts anderes mehr als die staatliche Unabhängigkeit vorstellen können, ist so gut wie erschöpft. „Nach all dem“, meinte der 38jährige Shevan aus Glogovač nach dem Begräbnis, „sind wir bereit, alles zu opfern, nur um unsere Freiheit zu erlangen.“