"Die Arbeitslosen sind nicht das Problem"

■ Weil die soziale Unsicherheit wächst, gehen die Mittelschichten auf Distanz zum demokratischen System, befürchtet der Soziologe Wilhelm Heitmeyer

taz: Gefährdet die Massenarbeitslosigkeit die Demokratie?

Wilhelm Heitmeyer: Je mehr Leute in wirtschaftliche Unsicherheit geraten, desto weniger glauben, daß ihnen das soziale und politische System noch etwas anzubieten hat. Früher gab es gerade bei den Arbeitslosen die individuelle Hoffnung, daß man selbst schnell wieder in den Arbeitsprozeß hineinkommt. Ein Trugschluß, wie die zunehmende Langzeitarbeitslosigkeit beweist.

Aber nicht nur für die Arbeitslosen, sondern auch in der gesellschaftlichen Mitte gerät die soziale Sicherung in Bewegung. Dort geraten größere Gruppen in einen prekären Wohlstand. Solche Veränderungen und Unsicherheiten sind immer auch mit politischen Ausschlägen verbunden.

Wo sehen Sie den Mittelstand von Verarmung bedroht?

Es muß keine Armut sein, aber eine Gefährdung der sozialen Stellung. Nehmen Sie einen Kfz-Mechaniker in einer bundesdeutschen Großstadt, verheiratet, zwei Kinder, die Frau kann aus irgendwelchen Gründen nicht arbeiten. Was verdient der? 2.500 Mark netto. Die Inflation steigt schneller als der Lohn, Straßenbahn und Schwimmbad werden wieder mal teurer. Das Geld reicht nur noch knapp. Gerade hat sein Kollege den Job verloren.

Die Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung glaubt mittlerweile, daß die eigenen Kinder den Status der Familie nicht mehr halten können. Und das ist neu in der Geschichte der Bundesrepublik.

Ein Paradox: Nicht die Enttäuschung der Arbeitslosen birgt Sprengstoff, sondern die Furcht der Arbeitenden?

Ich fürchte, daß zuerst einmal diejenigen Gleichgültigkeit gegenüber dem politischen System entwickeln, die ein Aufstiegsprojekt realisieren wollen und gleichzeitig massiv bedroht sind – oder sich zumindest bedroht fühlen. Diese Selbsteinschätzung geht über das traditionelle Arbeitermilieu weit hinaus, denn die große Rationalisierung im Dienstleistungsbereich kommt ja erst noch. Bei den Banken geht das gerade langsam los. Und damit könnte sich sehr schnell ein ganzes Politikmuster ändern: Soziale Sicherung wird durch öffentliche Sicherheit ersetzt.

Was soll es dem Kfz-Mechaniker in Geldnot bringen, wenn ihm ein höheres Maß an Innerer Sicherheit suggeriert wird?

Einerseits fühlt er seinen Lebensstandard bedroht. Das bedeutet Unsicherheit. Durch vermehrte Polizeipräsenz, Lauschangriff, Sicherheitsdienste in der U-Bahn – da ließe sich noch viel mehr aufzählen – sagt der Staat andererseits: Seht her, hier gibt es noch Bereiche, wo wir durchgreifen. Durch derartige angstfreie Räume bekommt man die Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt nicht weg, aber es ist zumindest der Versuch, den sozialen Konflikt auf eine neue Art auszupendeln. Der Staat stellt seine Handlungsfähigkeit dar, über die er in der ökonomischen Sphäre, wo früher eine ausgleichende Verteilungspolitik betrieben wurde, nicht mehr verfügt.

Und durch die Sicherheitspolitik sehen Sie die Demokratie gefährdet?

Die Verschiebung findet auch in den Köpfen statt, in der Mentalität. Was ist mir eigentlich wichtig? Ist es soziale Gerechtigkeit, oder ist es Sicherheit? Dort beginnt die Aushöhlung der demokratischen Gesellschaft. Dort wird sie tatsächlich bedroht.

Die soziale Demokratie stirbt zuerst in den Köpfen, nicht in der Praxis?

Das geht Hand in Hand. Der Staat zieht sich ja an vielen Stellen aus der Beeinflussung wirtschaftlicher und sozialer Abläufe zurück. Seit 1989 ist das Kapital frei und kann machen, was es will. In der neoliberalen Politik gibt es die Absicht, die Leute vermehrt in Angst und Unsicherheit zu versetzen. Das fördere den Fortschritt, heißt es. Der Krankenstand sinkt, und man hat die Beschäftigten an der Kandare.

Wohin so etwas führen kann, hat der Sozialwissenschaftler Ralf Dahrendorf beschrieben. Die drei politischen Ziele globale Wettbewerbsfähigkeit, soziale Integration und freiheitliche Gesellschaft könne man nicht gleichzeitig erreichen, sagt er – die Quadratur des Kreises.

Was fällt hinten runter?

Es besteht die Gefahr, daß das zu Lasten der sozialen Integration und der freiheitlichen Institutionen geht. Da entwickeln sich massive autoritäre Tendenzen durch die hochgefahrenen Sicherheitsinstitutionen und Kontrollnetze.

Sie betrachten das Konzept der Inneren Sicherheit vornehmlich als falsche Antwort auf die soziale Krise. Doch nimmt nicht die Gewalt wirklich zu?

Zunächst: Kriminalitätsfurcht steht ja in keinem direkten Zusammenhang zur Kriminalität, sondern ist viel stärker. Bei den realen Zahlen zur Jugendgewalt zum Beispiel muß man sehr vorsichtig sein. Ein sehr viel größeres Problem ist die Gewalt unterhalb der Schwelle der registrierten Kriminalität. Die hat tatsächlich zugenommen.

Dann stimmt Ihr ideologiekritischer Ansatz nicht so ganz.

Natürlich reagiert die Sicherheitspolitik auch auf existierende Probleme. Allerdings schaffen die Konservativen selbst die Voraussetzungen dafür, daß sie in diese Kerbe schlagen können. Ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik führt zur Desintegration der Gesellschaft oder läßt sie zumindest geschehen. Ein Beispiel: Für Jugendliche der dritten Immigrantengeneration wird der Zugang zu Arbeit und Bildung immer schwerer.

Ausländische Jugendliche haben doch aber keinen schlechteren Zugang zu Bildung als früher.

Doch, sie tappen in eine strukturelle Falle. Aus den Großstädten wandert das produzierende Gewerbe ab, und die Jobs brechen weg, die früher Immigranten angenommen haben. Neu hinzu kommt allenfalls noch High-Tech-Gewerbe. Da tut sich dann eine Qualifikationsschere auf. Der langsame Aufholtrend der ausländischen Jugendlichen bei Bildungsbeteiligung und dem Erwerb von Qualifikationen ist seit zwei Jahren gekippt.

Weniger Immigrantenkinder gehen zum Gymnasium?

Und sie erreichen auch weniger Abschlüsse auf anderen Ebenen. Das kann natürlich auch daran liegen, daß sie sich weniger anstrengen, weil sie kaum noch Chancen auf eine Berufstätigkeit haben und deshalb gleich in die eigenethnische Ökonomie gehen. Unter dem Strich ist die Integrationsleistung der Schule an diesem Punkt offensichtlich nicht mehr ausreichend.

Frustiert wie sie sind, schlagen die Jugendlichen schneller zu?

So einfach ist das nicht. Zur Desintegration der Gesellschaft und widersprüchlichen Modernisierung gehören viele Phänomene. So verringert sich die Kraft familiärer Bindungen, sozialer Kontrolle und bisher gültiger Verhaltensnormen. Trotzdem glaube ich nicht, daß so etwas wie Jugendgewalt oder Prozesse innerhalb der arbeitslosen Bevölkerung die primäre Ursache sind für die Sicherheitspolitik und die damit verbundene Gefährdung der demokratischen Gesellschaft. Die Frage der sozialen Sicherung der noch arbeitenden Mehrheitsbevökerung ist wichtiger.

Eine provokante These. Fünf oder sieben Millionen Arbeitslose spielen dann vornehmlich eine Rolle als Folie der Androhung für die Mehrheitsgesellschaft?

Das Problem sind in der Tat die Eliten, die es zum Teil nicht hinbekommen wollen, unter den Bedingungen der Globalisierung eine ausgleichende Sozialpolitik mit geringer Polarisierung zu erreichen. Durch dieses Versäumnis erhöhen sie den Leidensdruck in der noch arbeitenden Mittelschicht, um dann andererseits die Sicherheitspolitik als Medikament anzubieten.

Gott sei Dank haben wir es in der Bundesrepublik aber noch nicht mit einem starken Rechtspopulismus zu tun wie in Österreich oder Frankreich.

Welche Ansatzpunkte würde eine moderne Rechtspartei vorfinden?

Neben der Sicherheitspolitik vor allem die Ethnisierung sozialer Konflikte. Zur Zeit versagt die Immigrationspolitik völlig. Bald werden in manchen Großstädten die zwanzig- bis vierzigjährigen Zuwanderer fast 50 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Man kann eine solche Gruppe nicht einfach draußen halten. Sonst wird sie von der deutschen Bevölkerung für deren eigene Probleme verantwortlich gemacht und sich andererseits gegen die deutsche Gesellschaft abschließen. Eine Frontstellung, wie sie sich im Augenblick andeutet, einfach hinzunehmen halte ich für vollkommen verantwortungslos. Interview: Hannes Koch