Arbeitslosigkeit ist Thema Nummer eins

■ Täglich neue Massenentlassungen: Allein in der Stahlbranche sollen 500.000 Stellen gestrichen werden. Im berühmten „Stahlwerk der Hauptstadt“ reden die Arbeiter jetzt Klartext

Vom Volkskongreß fährt man die Straße des Himmlischen Friedens einfach geradeaus bis an ihr zwanzig Kilometer entferntes Ende. Dann steht man vor dem reichverzierten Haupttor des größten Pekinger Kombinats und weiß, wo der Aufstand gegen die Partei beginnen könnte.

„Die Mentalität ändern, Chancen und Vorteile nutzen und dem Stahlwerk der Hauptstadt neue Vitalität geben!“ fordert eine Propagandatafel rechts vom Fabriktor die in grauer und hellbrauner Werkskleidung vorbeiströmenden Arbeiter auf. Manche der ölverschmierten Gestalten scheuen sich nicht, gegenüber ausländischen Journalisten Klartext zu reden: „Wir sind hier 50.000 Arbeiter, und nach unseren Information soll ein Viertel davon den Job verlieren“, kommen zwei Kollegen der Maschinenbaufabrik sofort auf das heiße Thema zu sprechen. Denn von Arbeitslosigkeit war im berühmten „Stahlwerk der Hauptstadt“ in fast fünfzig Jahren Sozialismus keine Rede.

Diese Zeiten sind vorbei. Arbeitslosigkeit ist in Peking das Thema Nummer eins, seit die offiziellen Zeitungen täglich neue Massenentlassungen verkünden: Allein in der Stahlbranche sollen landesweit eine halbe Million Arbeitsplätze gestrichen werden. Noch schlimmer werden Kohle- und Rüstungsindustrie betroffen sein. Insgesamt rechnet die Regierung bis zum Jahr 2000 mit zehn Millionen neuen Arbeitslosen aus den Staatsbetrieben – eine Zahl, die sich schnell verdoppeln könnte, wenn das Reformtempo anzieht.

Am Fabriktor ist die Stimmung entsprechend. Ein Arbeiter verdient hier durchschnittlich 800 Yuan im Monat, das sind umgerechnet knapp 200 Mark – genug für Miete, Fahrrad, Schulgeld und bescheidenes Essen. Geht aber der Job verloren, gibt es nur noch ein „Mindesteinkommen“ von rund 200 Yuan, mit dem eine Familie nicht auskommen kann. Dann beginnt für die standesbewußten Arbeiter ein ungewohnter Überlebenskampf: Als Gelegenheitsarbeiter, Bauarbeiter oder Lastenradler müssen sie sich durchschlagen, um die tägliche Reisschüssel zu verdienen.

„Der neue Parteisekretär des Stahlwerks ist noch schlechter als der letzte, der wegen eines Gesetzesbruchs seines Sohnes den Posten quittierte“, klagen die Kumpel vom Stahlwerk. Vom Februar- Lohn, der am 14. des Monats fällig war, haben sie bis heute noch keinen Pfennig gesehen. Ein bißchen verwunderlich ist das schon. Denn wo, wenn nicht im Stahlwerk der Hauptstadt, kümmert sich die Partei noch um die Arbeiterklasse? Doch vielleicht ist den Regenten im Volkskongreß anderes längst wichtiger.