Mit Herzblut sudeln

■ Mäandern zwischen Geschlechtern und Formen, zwischen Leben und Tod: Die letzten Aquarelle von Martin Disler im Haus am Waldsee

Wie ein nicht enden wollender Strom quellen die Bilder aufs Papier und bringen verborgene Innenansichten hervor. Nichts gewinnt endgültige Form, alles ist vieldeutig, durchsichtig, nichts ist ganz und unversehrt. Raum und Zeit schwinden dahin, oben und unten, Menschen und Dinge. Sudelblätter, mit Herzblut gemalt, wie im Rausch, voller Besessenheit, un-an-ständig, un-ästhetisch.

999 Aquarelle wollte Martin Disler schaffen. Doch die magische Zahl wurde nicht erreicht. Ein Gehirnschlag setzte dem Leben des Schweizer Künstlers mit 47 Jahren 1996 vorzeitig ein Ende. Er hatte mit Musik, Theater und Lyrik begonnen, bevor er sich aufs Malen, Zeichnen und Bildhauern warf und ab Mitte der Siebziger zu einem der produktivsten neoexpressiven Künstler wurde. Er bekannte, „daß ich letztendlich ausschließlich in der Arbeit lebe. Ja, auch ich habe die Poesie immer für wirklicher als die Wirklichkeit gehalten, die Poesie, die ich in meiner Arbeit lebe.“

Insgesamt kamen in seinen letzten Lebensjahren, als er kaum aß, nur Tee und Wasser trank, tanzte, las und schrieb nur 388 „Arbeiten für den langen nassen Weg“ (so lautet programmatisch das einzige Text-Blatt) zustande. Eine Auswahl von etwa 120 ist als erste große Einzelausstellung von Disler in Berlin im Haus am Waldsee zu sehen.

Die Arbeiten ziehen sich ein- oder zweireihig, wie ein Filmband, an den Wänden entlang. Eine Chronologie ist nicht überliefert, die meisten sind unsigniert und vielansichtig. Es gibt keine Titel, nur immer wiederkehrende inhaltliche Bezugspunkte: Gesichter und Gesichte, Kopfskulpturen, religiöse und sexuelle Szenen, architektonische Konstruktionen, Schöpfungsgeschichte, Höllensturz, Tierbilder. Bestimmte Motive durchziehen viele der bodenlosen, Schwindel erzeugenden Kompositionen: Augen, Flammen, Kreuze, Raketen, Antennen.

Augen und Antennen als Ausdruck von Übersinnlichem, die „als Gehirnskulptur und Augskulptur“ aus dem Kopf des Künstlers treten. Augen auf Leibern und Gestirnen. Antennen, die aus Köpfen herauswachsen; Antennen, auf denen Menschen gleich Vogelreihen sitzen; Antennen auf Dächern von Gebäuden wie Container oder Baracken.

„Rasthof zum Entsetzen“ bildet das Stichwort einer unheimlichen Bildserie, entnommen einem Gedicht des portugiesischen Schriftstellers Fernando Pessoa (1888 bis 1935). Seine „Esoterischen Gedichte“ und seine Vorliebe für das Okkulte boten Disler vielfältige Anregungen. Die meisten Textzeilen in den letzten Aquarellen sind Zitate von Pessoa. Als „Cavalo de sombra“ (Schattenpferd) sieht sich Disler, ganz nah, nur als Augenpaar und Nüstern. Unter einem maskenhaft-ernsten Selbstporträt, das an Antonin Artaud, Schöpfer des Theaters der Grausamkeit, denken läßt, liest man: „In dieser Welt, in der wir uns vergessen, sind wir nur Schattenbilder“. Selbsterkundung gegen die Angst vor dem Tod. „Der Tod ist die Kurve an einer Straße“ steht bezeichnenderweise auf einem der Blätter am Ende der Ausstellung, in dem sich ein Weg wurmartig durchs Grün schlängelt.

In einem anderen Blatt – zwei Menschenschemen im vergitterten Wägelchen, Pranger und Totenbahre zugleich – formt die Deichsel sich zum Kreuz. Doch zweifelnd heißt es: „zieht keiner?“. Selbsterkundung als Damm gegen die Angst, nicht erinnert zu werden. „Blind memory“ bildet die Sockelinschrift einer bedrohlich kippenden Denkmal-Kerze. Beschwörend steht auf dem letzten Blatt der Ausstellung „Dein Name wird vergessen sein“.

„The world is woven of dream and error“ im Bild einer sturzgebeugten Gestalt am Ende einer Treppe könnte man wie ein Motto zum Bilderstrom verstehen. Dabei bedeutet das Hinabsteigen in eigene Tiefen weit mehr als Subjektanalyse. „Ich habe so viele Leute in meinem Körper. Welch ein Massenauflauf in mir. Ich bin eine Menschenkloake. Ich bin ein Massengrab.“

Dislers Gesicht gleicht einer Maske, sein Kopf hat viele Augen und viele Gesichter. Personelle Barrieren brechen, und beim Arbeiten, so der Künstler, passiert es, „daß ich selber geschlechtlich im Fließen bin zwischen männlich und weiblich“. Das Weiche und Transparente der Körper läßt sie durchgehend nackt erscheinen und nähert auch amorphe Formen menschlichen Gliedmaßen und Organen an. Körper wirken wie miteinander verwachsen, sich durchdringend, kopulierend, stürzend, brennend, schwebend. Alles ist mit allem verwoben.

Dislers Bildwelt weist Verwandtschaften zu Aquarellen von Joseph Beuys oder Francesco Clemente auf. Vor allem aber gleicht sie in ihrer kruden Direktheit den Bildern zustandsgebundener Kunst. Als er früher einmal als Pfleger in einer Psychiatrischen Klinik arbeitete, schrieb er: „Ich bin dort in den Patienten völlig aufgegangen.“ Michael Nungesser

Noch bis 5.4., Di.–So. 12–20 Uhr. Haus am Waldsee, Argentinische Allee, Katalog: 38 DM