Menschliche Mitmachmaschine

Die freiheitlich-schlingensiefsche Chaos-Union: In einem Zirkuszelt probt Christoph Schlingensief für seine neue Volksbühnen-Inszenierung „Chance 2000 – Wahlkampfzirkus 98“. Auch im Programm: die Gründung einer „Partei der letzten Chance“  ■ Von Kolja Mensing

Montag morgen, kurz vor elf. Christoph Schlingensief hat beschlossen, ab heute öffentlich zu proben. Die Presse ist eingeladen, das Zweite Deutsche Fernsehen wird erwartet: Schlingensief inszeniert „Chance 2000 – Wahlkampfzirkus 98“ für die Volksbühne auf dem Prater-Gelände, und alle sollen zugucken.

Erst einmal: Hektik und Chaos. Im Produktionsbüro werden vier Telefone gleichzeitig benutzt, die Homepage muß geändert werden, und überall liegen Stapel von Papier. Oberstaatsanwalt a.D. Dietrich Kuhlbrodt, seit langem Schlingensief-Schauspieler, zeigt einer entnervten Produktionsleiterin, welche Formulare aus dem gelben Buch kopiert werden müssen, das er mitgebracht hat: „Rechtsgrundlagen für die Wahlen zum 15. Deutschen Bundestag“.

Denn inzwischen ist es beschlossene Sache, daß parallel zur Inszenierung von „Chance 2000“ eine Partei gegründet wird: die „Partei der letzten Chance“. – „Die Proben sollen um elf beginnen“, erinnert Regieassistent Robert Koal an den Zeitplan. Der Regisseur wühlt in irgendwelchen Unterlagen, hört anscheinend überhaupt nicht zu: „Okay, wir treffen uns jetzt erst einmal mit Medienleuten im großen Wagen. Die Proben beginnen dann so gegen halb eins.“ Er rennt aus dem Raum: Bewegung! Sein Assistent zuckt mit den Schultern: „Und tschüs.“

Etwa zwanzig Menschen drängeln sich kurze Zeit später in einem Bauwagen. An den Wänden hängen Porträts von Andy Wharhol, Roman Herzog und Alfred Edel. Darunter sitzt die ganze Schlingensief-Familie, der Meister selbst thront am Ende des Tisches und preist Gebäckstücke an. Martin Wuttke kommt zu spät, Bernhard Schütz knipst mit einer Wegwerfkamera. Und Mario Garzaner, einer der behinderten Schauspieler der Truppe, rennt draußen herum, ruft ab und zu „Helau!“: Es ist Rosenmontag. Zwei neue Gesichter sind auch dabei, Gerd und Florina Sperlich vom Circus Sperlich. In ihrem schönen blauen Zelt, das sie im Pratergarten aufgebaut haben, wird „Chance 2000“ ab nächster Woche aufgeführt.

Die Kamera läuft, Schlingensief erzählt. Von der Bundesregierung und den Bürgern: System „Burg“ und System „Volk“. Von der Kunst und dem Theater, das nicht erst mit der Premiere beginnen darf. Von den sechs Millionen Arbeitslosen. Er hat das schon hundertmal in Interviews und Talkshows erzählt, und trotzdem hängen alle an seinen Lippen. Der Raum beginnt zu schwingen, die Resonanz – das Phänomen Schlingensief – ist mit den Händen zu greifen. „Manege frei, der Wahlkampf beginnt“, sagt der nette, junge Theatermann im blauen Seemannspullover, und alle machen mit: Forward to all directions!

Der Wohnwagen vom Circus Sperlich wirkt inmitten dieses euphorischen Rausches zuerst einmal wie eine rustikale Chill-out- Lounge. Es ist gemütlich wie in einem richtigen Wohnzimmer: mit Kinderzeichnungen, nachgemachtem Eichenfurnier und gepolsterten Sitzbänken. Circus Sperlich ist ein rühriger, kleiner Familienbetrieb: Vater, Mutter, vier Kinder. Raubtiernummern gibt es keine, dafür aber zwei Pythonschlangen und vor allem jede Menge talentierte Ziegen und Ponys. Die Sperlichs machen einen offenen Zirkus, arbeiten viel mit Kindern und Jugendlichen zusammen, auch mit behinderten.

Jetzt zeigen sie den Schauspielern, wie man seiltanzt oder Ziegen dazu bringt, Kunststücke vorzuführen. Man versteht sich gut, und Vater und Mutter Sperlich sind längst vom allumfassenden Schlingensief-Diskurs infiziert: „Wir unterstützen das ganze Projekt voll, auch daß der Christoph eine Partei gründen will“, erklären sie und sagen Sachen wie: „Mit wenig viel auf die Beine stellen“, „Keiner ist hier Statist“ oder „Zirkus, das ist Bewegung“. Und als Florina erklärt, daß die Manege ein „System“ sei, wundert man sich schon gar nicht mehr.

Im „System“ wird geprobt. Es ist genauso, wie man sich eine Schlingensief-Probe vorstellt. Es gibt keinen Ablaufplan, auch keine groben Skizzen: work in progress. Am Anfang soll Ilse Garzaner, die Mutter von Schlingensiefs Star Mario, wieder die Feuilletonistin Sigrid Löffler geben, wie schon in der „Schlacht um Europa“. „Guten Abend, meine Damen und Herren. Mein Name ist Sigrid Löffler, ich begrüße Sie recht herzlich. Ich habe viel Zeit mitgebracht, und ich hoffe, Sie haben auch viel Zeit mitgebracht, und...“ „Halt!“ unterbricht Schlingensief, „du mußt dann noch sagen: ,Sie verstehen schon.‘ Und am Ende den Mikrofonständer umtreten. Kräftig, mit dem Fuß.“

Immer wieder Chaos, doch das gefällt Schlingensief am besten, und eine neue Szene entsteht. Einmal ist es ganz plötzlich ruhig. Keine Musik mehr, keine Regieanweisungen, Stillstand. Dann ein Tumult: Achim von Paczensky („Heiner Müller“) verlangt mehr Geld. Zumindest einen Vorschuß. Martin Wuttke und Bernhard Schütz, die in knallengen Strumpfhosen eigentlich zusammen mit der Kollegin Astrid Meyerfeldt als Pferde durch die Manege galoppieren sollen, unterstützen ihn: „Wir wollen Geld.“

Kerstin Grassmann nimmt sich ein Mikrofon: „Also, ich finde das total Scheiße, daß Achim mehr Geld verlangt. Da schäme ich mich ja für den ganzen Behindertenverband. Der soll erst mal arbeiten.“ Ein knapper Wortwechsel, die Diskussion scheint zu entgleisen. Der Regisseur allerdings wirkt völlig unbeteiligt, steigt dann auf ein Pony, reitet um die Manege. Die Musik wird aufgedreht, Wuttke, Schütz und Meyerfeldt galoppieren wieder, der Streit ist nach dem Prinzip Schlingensief gelöst: Bewegung!

Robert Koal ist seit drei Jahren Regieassistent bei Christoph Schlingensief. Wie diese gewaltige Energie- und Mitmachmaschine funktioniert? – „Keine Ahnung. Sie funktioniert einfach. Christoph hat Charisma, kann wahnsinnig gut motivieren.“ Manchmal hat Robert Koal schon Bedenken gehabt: daß ein Projekt nicht funktionieren könnte, daß die Energie ins Leere laufen könnte. Besonders vor der letzten Aktion, „7 Tage Notruf für Deutschland“, bei der die Schlingensief-Familie als Produktion des Deutschen Schauspielhauses vor dem Hamburger Hauptbahnhof einen „angstfreien Raum“ schaffen wollte: mit Suppe, Tee – und Mikrofonen, um Obdachlosen und Junkies eine Stimme zu geben.

Robert Koals Bedenken hatten sich schnell erledigt – der „Notruf“ wurde ein großer Erfolg, und die Aktion läuft weiter: „Wir haben uns das kürzlich noch einmal angeschaut, und die Leute dort haben übrigens Christoph ganz klar gesagt, daß er jetzt nur noch zu Besuch ist.“

Womit wahrscheinlich niemand gerechnet hätte: Das Zentrum, der Motor Schlingensief, verlagert sich – ohne Energieverlust. Wer allerdings nahe dran ist und zur Familie gehört, spürt, wie stark die Anziehungskraft des Zentrums ist. Vor allem, wenn man irgendwann gehen muß. Bewegung? Bewegung: Für Robert Koal ist „Chance 2000“ das letzte Projekt, das er mit Schlingensief zusammen macht. Er hat einen neuen Job: „Das war natürlich ganz merkwürdig, Christoph das mitzuteilen. Es ist das gleiche Gefühl, als ob man sich von seiner Freundin trennt.“

Carl Hegemann, ehemals Dramaturg der Volksbühne, danach in Bochum und am Berliner Ensemble, ist der Chefideologe des Unternehmens. Er sitzt am Rande der Probe, versucht theoretische Ordnung in Schlingensiefs wilde Szenarien zu bringen: „Wenn ihr die Schilder ,Religion‘ und ,Politik‘ in der Manege habt, müßt ihr auch die ,Kunst‘ dazustellen. Wegen der Systematik.“ Man darf Carl Hegemann nicht zu viele Fragen stellen: Bertolt Brecht und Christoph Schlingensief, das endgültige Niederreißen der vierten Wand – der Mann sprudelt nur so über und kann gar nicht aufhören zu erklären, daß es nichts zu erklären gibt: Abschied von der Utopie, Abschied vom kategorischen Imperativ, Abschied vom Theater.

Und Abschied vom Abstand: Hegemann beharrt nicht auf der kritischen Distanz des Dramaturgen, findet, „man muß auch Teil der Geschichte sein“. „Aus Spaß“ organisiert er dann auch gleich noch zusammen mit Dietrich Kuhlbrodt die Anmeldung der Schlingensief-Partei zur Bundestagswahl: „Dietrich, da ist noch ein bißchen zuviel altes Europa in deinem Programmentwurf.“ Und der Theoretiker freut sich mit einer Begeisterung, die er sonst nur für die Schriften des Soziologen Niklas Luhmann aufbringt, wie freundlich die zuständigen Behörden sind.

Machen, machen, machen: Das ganze Produktionsteam erweckt den Eindruck, unter dem Einfluß euphorisierender Drogen zu stehen. Hegemann hat damit keine Probleme: „Das finde ich gut. Also, wenn du das so sagst, daß Schlingensief wie eine Droge ist, dann finde ich das gut.“

Derweil tobt Dionysos in der Manege: Vater und Mutter Sperlich, Martin Wuttke und Mario Garzaner purzeln durcheinander, dazu Musik und schönes Licht – Schlingensief ist begeistert, und für heute reicht es. Noch einmal dreht er richtig auf: „Wir haben 2.000 neue Texte erfunden und 70 neue Szenen“, kräht er in sein Mikrofon, als ginge es gerade erst los: „Das war eine tolle, eine großartige Probe.“ Beifall und strahlende Gesichter.

Alles Theater? Vielleicht. Vielleicht auch einfach Zirkus, Energie, Bewegung: Schlingensief.

Die Premiere von „Chance 2000 – Wahlkampfzirkus 98“ findet am 13.3. um 19.30 Uhr im Volksbühnen-Prater statt, Kastanienallee 7–9, Prenzlauer Berg

Der Zirkus kommt aber auch immer und überall zu Ihnen. Anruf genügt, unter Telefon: 44 05 75 16. Oder per Fax: 448 58 90